Hinweis

Für dieses multimediale Reportage-Format nutzen wir neben Texten und Fotos auch Audios und Videos. Daher sollten die Lautsprecher des Systems eingeschaltet sein.

Mit dem Mausrad oder den Pfeiltasten auf der Tastatur wird die jeweils nächste Kapitelseite aufgerufen.

Durch Wischen wird die jeweils nächste Kapitelseite aufgerufen.

Los geht's

Protest (er)zählt!

Logo https://www.protest-erzaehlt.de/protest-er-zaehlt

Startseite

Proteste sind Ausdruck von gesellschaftlicher Kritik. In einer Demokratie können die Bürgerinnen und Bürger so ihre Meinung öffentlich zum Ausdruck bringen. In autoritären Systemen und Diktaturen ist Protest dagegen nicht so einfach möglich. Dort wird er oft staatlich unterdrückt und bietet hohe persönliche Risiken. In der DDR konnte man zum Beispiel nur sehr eingeschränkt protestieren. Jegliche Form von Widerstand wurde an staatliche Institutionen gemeldet und war mit Folgen für die individuelle Freiheit verbunden. Trotzdem gab es auch dort viele, teils auch sehr erfolgreiche Protestbewegungen. Sie haben einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass in ganz Deutschland eine Demokratie entstehen und Menschenrechte garantiert werden konnten.

Tauche mit uns ein in verschiedene Protestbewegungen: An drei Schauplätzen lernst du je einen Protest in der Bundesrepublik Deutschland, der DDR und der Tschechoslowakei kennen. Die verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Umstände dieser Staaten machen jede dieser Bewegungen in Bezug auf Auslöser und die Umsetzung einzigartig. Du kannst also mehr über die Ursachen, Mechanismen und Formen von Widerstand lernen.

Von dieser Startseite aus kannst du die einzelnen Schauplätze betreten. Hier findest du jeweils eine Infobox mit einem einführenden Comic und einer Einführung in den historischen Kontext. Durch Scrollen oder Wischen kannst du diese aufrufen.

Anschließend kannst du die einzelnen Elemente anklicken. So öffnen sich weitere Informationen über Ursachen, Auswirkungen oder Beteiligte zu den einzelnen Protesten. Die Elemente sind mit Markern versehen. Du findest sie, indem du mit der Maus oder dem Finger über den Bildschirm fährst. Sie leuchten auf, wenn diese/r auf ihnen liegt. Die Videos, Fotos, Abbildungen, Grafiken etc. auf diesen Unterseiten kannst du ebenfalls anklicken und anschauen.

Hast du das Ende einer Unterseite erreicht, gelangst du automatisch zurück zur Startseite. Du kannst dich aber auch jederzeit über das Navigationsfeld am rechten Bildrand selbstständig dort hinbewegen.

Wenn du nicht am Computer sitzt, drehe dein Tablet oder Smartphone ins Querformat für eine optimale Ansicht.

Und jetzt: Viel Spaß beim Erkunden!

Zum Anfang
Nach oben scrollen
Nach links scrollen
Nach rechts scrollen
Nach unten scrollen

Impressum

Hier findest du das Impressum.

Datenschutz

Hier findest du Informationen zum Datenschutz.

Zum Anfang

Historische EInführung

Zum Anfang
Nach dem Sieg der Alliierten 1945 wurde Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Die sich abzeichnende Konfrontation der Siegermächte USA und Sowjetunion ließ schon bald die Neugründung eines einheitlichen deutschen Staates unmöglich erscheinen. So entstand 1949 aus den drei Westzonen mit Unterstützung der USA, Großbritanniens und Frankreichs die demokratisch verfasste Bundesrepublik Deutschland. Nach den ersten freien Wahlen 1949 wählte der Bundestag Konrad Adenauer zum Bundeskanzler. In der sowjetisch besetzten Zone bestimmte die KPD mit Unterstützung der Sowjets den politischen Kurs. Nach der Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED wurde diese neue Partei zur bestimmenden Kraft. Gegen Widerstände aus den weiteren Parteien setzte die SED-Führung ihren Kurs durch, der sich am Vorbild der Sowjetunion orientierte.

Im Jahr 1949 wurde auch die DDR als Staat gegründet, nachdem Joseph Stalin persönlich dafür grünes Licht gegeben hatte. Im Gegensatz zur Bundesrepublik, in der ein marktwirtschaftliches System entstand, bereitete die SED-Führung in der DDR die Einführung der Planwirtschaft vor. Die Ausgangsvoraussetzungen der Wirtschaft waren in der DDR besonders schwierig, weil die Sowjetunion in großem Ausmaß Industrieanlagen als Reparationen demontierte und ins eigene Land abtransportierte. Die wirtschaftliche Entwicklung in den beiden deutschen Staaten verlief somit sehr unterschiedlich.

Nach ersten Schwierigkeiten wuchs in der Bundesrepublik die Wirtschaft kontinuierlich. Lebensmittelkarten, mit denen bestimmte Produkte rationiert wurden, wurden in der Bundesrepublik 1950 abgeschafft. In der DDR erhielt die Schwerindustrie Vorrang beim Wiederaufbau; Lebensmittelkarten wurden hier erst 1958 abgeschafft. Großen Unmut in der Bevölkerung erregte die Entscheidung der SED-Führung im Jahr 1952, den Sozialismus „planmäßig“ einzuführen. Die mit dieser Entscheidung verbundenen Zwangsmaßnahmen brachten große Teile der Bevölkerung gegen die Partei- und Staatsführung auf. Die Erhöhung der Arbeitsnormen war schließlich der Zündfunke, der im Juni 1953 einen Volksaufstand in der DDR auslöste.

Zum Anfang

Was waren Ursachen und Auslöser des Volksaufstands 1953?

Die SED-Führung hatte die DDR seit ihrer Gründung nach sowjetischem Vorbild organisiert und geleitet. Die führende Rolle der SED wurde bereits bei der 1. Parteikonferenz der SED 1949 festgeschrieben; die Bevölkerung hatte nie die Möglichkeit, über das Vorgehen der SED abzustimmen („Diktatur des Proletariats“).

Der Entscheidung zum Aufbau des Sozialismus im Jahr 1952 folgten Verstaatlichungen von Betrieben, Zwangskollektivierungen in der Landwirtschaft und weitere Repressalien. Diese Maßnahmen kamen einem Kampf gegen große Teile der Bevölkerung gleich, die angesichts des weiter bestehenden Mangels an Gütern des täglichen Bedarfs kein Verständnis dafür hatte.
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Video jetzt starten
Die SED als führende Kraft in der DDR berief vom 9. bis 12. Juli 1952 die 2. Parteikonferenz ein. Dort gab das Zentralkomitee (ZK) der SED (die höchste Instanz der Partei) seinen Beschluss bekannt, „daß in der DDR der Sozialismus planmäßig aufgebaut wird“. Die Parteikonferenz bestätigte diesen Beschluss. Als Konsequenz dieser Entscheidung wurden Bauern gezwungen, sich in volkseigenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zusammenzuschließen. Daneben wuchs die Zahl der Volkseigenen Betriebe (VEB) in Industrie und anderen Bereichen beständig durch Verstaatlichungen. Selbstständige Unternehmer und Gewerbetreibende wurden mit Enteignung oder Zwangskollektivierung bedrängt. Zudem begann die SED, die Kirchen zu unterdrücken.

Um die Staatsmacht zu stärken, versuchte man bei der 2. Parteikonferenz den Aufbau nationaler Streitkräfte voranzutreiben. Tatsächlich aber war die Konferenz inszeniert, da sie kein Parlament darstellte. Eine Beschlussfassung besaß sie faktisch nicht. Mitte 1953 verfügte die Kasernierte Volkspolizei (KVP), der Vorläufer der Nationalen Volksarmee, bereits über 110.000 Bewaffnete. Mit großen wirtschaftlichen Anstrengungen (Erhöhung der Arbeitsproduktivität und Senkung der Selbstkosten) sollte innerhalb kurzer Zeit der Lebensstandard auf Vorkriegsniveau gebracht werden.

Video öffnen

Zum Anfang
Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden. Mehr Informationen
Ansicht vergrößern bzw. verkleinern

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Das vorrangige Ziel der Wirtschaftspolitik der SED war der Wiederaufbau und die Weiterentwicklung der Schwerindustrie. Dieses Ziel war 1953 unter Mühen erreicht. Die Lebensmittel- und Konsumgüterindustrie hinkte jedoch hinterher. Als Folge dieser Politik erlebten die Menschen Versorgungsengpässe und mussten Lebensmittelrationierungen hinnehmen.

Der wirtschaftliche Aufschwung wurde zusätzlich gebremst durch die Zwangsmaßnahmen bei der Einrichtung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und gegenüber Selbstständigen. Viele Menschen wollten ihre Eigenständigkeit nicht aufgeben und flüchteten in die Bundesrepublik. Da zudem viele Menschen in die Kasernierte Volkspolizei eingezogen wurden, hatten die Betriebe  in allen Branchen Probleme Arbeitskräfte zu finden. Innerhalb eines kurzen Zeitraums mussten die Betriebe dadurch ab 1952 auf rund 60.000 junge Männer als Arbeitskräfte verzichten.

Neben der Wirtschaft sollten alle Lebensbereiche den Vorstellungen der SED entsprechend organisiert werden. Die Länder wurden abgeschafft und stattdessen elf Bezirke eingerichtet. Das Rechtswesen wurde umgestaltet, das Bildungssystem sollte reformiert werden. 1952/1953 begann die SED ihren Kampf gegen die Kirchen, insbesondere gegen die Evangelische Kirche. Die Kirchen waren die letzten eigenständigen Großorganisationen in der DDR. Der evangelischen Jugendorganisation „Junge Gemeinde“ wurde vorgeworfen, als „Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage“ im Auftrag des Westens aktiv zu sein. Viele Jugendliche und Theologen wurden verhaftet.

Der Unmut in der Bevölkerung wuchs, was auch an der steigenden Zahl von Geflüchteten abzulesen war, die in die Bundesrepublik übersiedelten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Ein Arbeiter lehnt sich an das Geländer eines Turmdrehkrans.
Zum Anfang

Diagramm: Fluchtbewegungen aus der DDR

Vollbild
Quelle: Es geschah im Juni 1953. Fakten und Daten, Bonn/Berlin 1966, S.19
Lizenz: Creative Commons by-nc-nd/3.0/de
Bundeszentrale für politische Bildung, 2013, www.bpb.de

Schließen
Zum Anfang
Auf der 2. Parteikonferenz der SED waren Beschlüsse zur Erhöhung der Produktivität verabschiedet worden, die eine Steigerung der Produktivität im Fünfjahrplan in Höhe von 72% festschrieb. Obwohl dieser Wert illusorisch war, hatten tatsächlich einige daran geglaubt. Es gab erste innerbetriebliche Auseinandersetzungen; sogar erste kleinere Streiks fanden statt (das Streikrecht war in der DDR-Verfassung bis 1968 offiziell verbrieft).

Ende 1952 kam es dann zu einer ersten regelrechten Streikwelle, weil die Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Höhe der Prämien und Weihnachtsgeldzahlungen nicht einverstanden waren. Trotz der wachsenden Unzufriedenheit in den Betrieben beschloss das Zentralkomitee der SED am 14. Mai 1953 die Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent zum 1. Juni 1953.

Die Normen heraufzusetzen, bedeutete faktisch eine Lohnkürzung: In der gleichen Zeit musste mehr geleistet werden. Gegen diese Entscheidung wuchs der Widerstand in den Betrieben. Es kam immer wieder zu Arbeitsniederlegungen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Artikel 14 der DDR-Verfassung von 1949 
(Quelle: https://www.1000dokumente.de/pdf/dok_0232_ddr_de.pdf)
Zum Anfang
Nach Stalins Tod am 7. März 1953 verfolgte die neue Führung in der Sowjetunion eine Politik, die sich vom stalinistischen Zwang abwandte, wobei sie keinen Zweifel am Führungsanspruch der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) aufkommen ließ. Es sollte jedoch noch drei Jahre dauern, bis der neue Parteichef Nikita Chruschtschow in einer Geheimrede Stalins Politik als Abweichung vom Kommunismus Lenins brandmarkte.

Angesichts des neuen Kurses in der Sowjetunion befürchtete die SED-Führung zunehmenden Widerstand gegen ihre Politik und reagierte mit Härte auf erste Proteste; die SED-Führung sah keinen Anlass, ihren eingeschlagenen Weg zu korrigieren. Es waren die Sowjetunion, der deutlich wurde, dass der rasche Aufbau des Sozialismus in der DDR große Probleme bereitete. Ein deutliches Indiz waren die steigenden Flüchtlingszahlen: allein im März 1953 flohen 31.000 Menschen aus der DDR. Die Sowjets setzten eine Kommission ein, die Vorschläge zur Verbesserung der Situation in der DDR ausarbeitete. Es wurde eine hochrangige SED-Abordnung mit Walter Ulbricht, dem SED-Generalsekretär, an der Spitze nach Moskau einbestellt.

Während des Aufenthaltes wurden der Delegation „Maßnahmen zur Gesundung der politischen Lage“ präsentiert. Dazu gehörten u. a.: Rücksichtnahme auf die Einstellung der Bauern bei der Zwangskollektivierung, Stärkung bäuerlicher Wirtschaften, Förderung von Privatkapital und Privatunternehmen, Änderung des Fünfjahresplans zur Stärkung der Konsumgüterindustrie, Abkehr von der Bevorzugung der Schwerindustrie sowie die Einstellung des Kampfes gegen die Kirchen.

Nach anfänglichem Widerstand akzeptierte die vollkommen überraschte Delegation der SED die ihnen auferlegten Kurskorrekturen. Nach der Rückkehr bereitete die SED-Führung in wenigen Tagen hektisch Maßnahmen vor, um die Instruktionen umzusetzen. Schließlich veröffentlichte die SED-Führung am 9. Juni 1953 ein Kommuniqué, das am folgenden Tag im Radio gesendet und am 11. Juni auf der Titelseite des „Neuen Deutschland“, dem Parteiorgan der SED, veröffentlicht wurde. Darin kündigte die SED eine politische Kurskorrektur an und gestand ein, Fehler gemacht zu haben – allerdings ohne zu erwähnen, dass die Kurskorrektur auf Anweisung aus Moskau erfolgte.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Persönliche Notizen von DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl vom 2. Juni 1953. Er notierte sich die Namen der Gesprächspartner und die Kernaussage der Besprechungen: "Beunruhigt über DDR, Dokument über Maßnahmen zur Genesung. Verbesserung d. Ökonomie. 10.0 am 3.6. Fortsetzung. Wilhelm [Pieck] am 4.6. Berichtet."
Quelle: Bundesarchiev: BArch, NY 4090/699 Bl. 30.
Zum Anfang
Im Kommuniqué der SED wurden die konkreten Veränderungen, die jetzt vorgenommen werden sollten, detailliert aufgelistet:
Rücknahme
  • der Einschränkungen in der Lebensmittelversorgung,
  • der Zwangskollektivierungen,
  • der drastischen Steuererhebungen.
Das Niveau des Lebensstandards sollte angehoben, der in Privatbesitz befindliche Mittelstand wieder gefördert werden. Auch der Kampf gegen die Kirchen sollte eingestellt, Verhaftete freigelassen werden.

Da die SED versäumte, konkrete Handlungsanweisungen zur Umsetzung des neuen Kurses für die einzelnen Parteigliederungen auszugeben, kam es zu Unsicherheiten und Verwirrungen bei den SED-Mitgliedern. Parteifunktionäre, die den harten Kurs der Partei bei der Einführung des Sozialismus vehement verteidigt hatten, waren fassungslos und wurden öffentlich angefeindet. Die Bevölkerung wertete den Richtungswechsel als Bankrotterklärung der SED. Zudem fehlte ein wichtiger Punkt bei den angekündigten Veränderungen: die Normerhöhung wurde nicht zurückgenommen. Das sollte der Zündfunke für das Aufflammen von Auseinandersetzungen werden.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht Volkes Wille“ – diese Parole auf einem Straßenbahnwagen in Leipzig am 17. Juni 1953 spielte auf die führenden SED-Politiker Ulbricht, Pieck und Grotewohl an.
Quelle: Sächsisches Staatsarchiv, 13782 Sammlung Bewegtbilder, Nr. AV 13782-102
Zum Anfang

17. Juni 1953 - Vom Arbeiterstreik zum Volksaufstand in der DDR

Nach oben scrollen
Nach links scrollen
Nach rechts scrollen
Nach unten scrollen

Zur Startseite

Zum Anfang

Wie verlief der Volksaufstand?

Das Eingeständnis von Fehlern durch die SED-Führung war ein einmaliger Vorgang. Die beschlossenen Kurskorrekturen waren in den Augen der Bevölkerung ein Beweis für das Scheitern der bisher verfolgten Politik. Dass die Normerhöhung nicht wieder zurückgenommen wurde, rief vor allem bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern wachsenden Unmut hervor. Zu spät erkannte die unsicher agierende SED-Führung, welche Sprengkraft sich hinter dem Festhalten an der Normerhöhung verbarg. Aus ersten Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen entwickelte sich in kürzester Zeit ein Aufstand, der die ganze DDR erfasste und sie in ihren Grundfesten erschütterte.
Zum Anfang
Die Bauarbeiter am Prestigeprojekt Stalinallee waren privilegiert und verdienten bis zu zwei- oder dreimal so viel wie ein normaler Bauarbeiter. Die Normerhöhungen bedeuteten für sie erhebliche Gehaltseinbußen, die sie nicht hinnehmen wollten.

Unter den Bauarbeitern der Stalinallee und auf umliegenden Großbaustellen gab es schon vor dem 17. Juni Unruhen. SED-Funktionäre versuchten die aufgebrachten Arbeiter zu besänftigen, was aber nicht gelang. Bereits am 15. Juni weigerten sich die Bauarbeiter des Krankenhauses Friedrichshain, ihre Arbeit aufzunehmen. Sie forderten die Rücknahme der Normerhöhungen und richteten ein entsprechendes Schreiben an den Ministerpräsidenten.

Am Tag darauf, dem 16. Juni, erklärten SED-Funktionäre den Bauarbeitern auf den verschiedenen Baustellen erneut, dass eine Rücknahme der Normerhöhungen nicht möglich sei. Daraufhin bildete sich auf der Stalinallee ein erster Demonstrationszug, dem sich viele Arbeiterinnen und Arbeiter anschlossen. Sie forderten auf Plakaten die Senkung der Normen und zogen in das Stadtzentrum.

Der Demonstrationszug wuchs schnell an und auch Arbeiterinnen und Arbeiter in anderen Betrieben traten in den Streik und demonstrierten. Gegen 13:30 Uhr kamen die ersten Demonstranten am Haus der Ministerien an. Schließlich waren dort ca. 10.000 Demonstranten versammelt. Um diese Zeit berichtete erstmals der amerikanische RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) über die Demonstrationen im Ostteil der Stadt.

Etwa um 14:00 Uhr erschien ein Minister der DDR-Regierung und verkündete den Demonstrierenden die Rücknahme der Normerhöhungen. Diese Nachricht interessierte die Menschen nun aber nicht mehr, denn mittlerweile forderten sie freie und geheime Wahlen. Gegen 14:30 räumten die Demonstranten den Platz; gleichzeitig riefen sie für den nächsten Tag einen Generalstreik aus.

Eine Abordnung der Demonstranten übergab dem RIAS eine Resolution mit der Bitte um Veröffentlichung. Der Sender, der in weiten Teilen der DDR gehört werden konnte, verlas die Forderungen in einer abgeschwächten Version. Schließlich informierte der RIAS spätabends darüber, dass alle Bürger und Bürgerinnen Ostberlins am Morgen des 17. Juni ab 7:00 Uhr zu einer Demonstration aufgerufen seien. Die Verantwortlichen des Senders wollten einerseits informieren, andererseits aber auf keinen Fall den Eindruck erwecken, dass sie die Unruhen anheizten. In der Bundesrepublik vermutete man zunächst, dass es sich bei den Demonstrationen um Maßnahmen der SED handele, um die Wiedervereinigung Deutschlands von östlicher Seite aus anzustoßen. Man wartete ab. Die SED ihrerseits veranstaltete am Abend des 16. Juni ab 20:00 Uhr in Berlin eine Veranstaltung, bei der sich die Parteigrößen feierten und die Ereignisse in der Stadt ignorierten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Ein Arbeiter steht auf einem Turmdrehkran.
Zum Anfang
0:00
/
0:00
Audio jetzt starten
Zum Anfang
Die Kenntnis von den Ereignissen des 16. Juni in Berlin verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit in der ganzen DDR. Schon ab den frühen Morgenstunden des 17. Juni traten in ganz Ostberlin Beschäftigte in den Streik und es formierten sich große Demonstrationszüge. Auch in vielen anderen Städten der DDR, z. B. in Dresden, Görlitz, Halle, Leipzig oder Magdeburg, traten Menschen in den Streik und organisierten Demonstrationen. Sie forderten den Rücktritt der Regierung, freie und geheime Wahlen, Rede- und Pressefreiheit, Freilassung politischer Gefangener, Überprüfung aller Arbeitsnormen sowie die Einheit Deutschlands. Aus den Protesten hatte sich ein Volksaufstand entwickelt.

Die Demonstrationszüge bewegten sich in allen Städten auf ähnliche Ziele zu: Haftanstalten, Dienststellen der Volkspolizei sowie Büros der Staatssicherheit (Ministerium für Staatssicherheit, MfS). Auch Gebäude von Stadtverwaltungen und der SED steuerten die Demonstranten an. Viele dieser Gebäude wurden gestürmt und von den Demonstrierenden verwüstet. Aus Haftanstalten in einzelnen Städten wurden politische Gefangene befreit. Polizisten wurden entwaffnet, Staatsbedienstete und SED-Funktionäre verprügelt. Vereinzelt kam es zu Schießereien. Polizeiwägen und einzelne Gebäude gingen in Flammen auf. Die Sicherheitskräfte der Volkspolizei und des MfS waren rasch überfordert und konnten die Aufstandsbewegung nicht stoppen. In über 700 Orten in der ganzen DDR kam es zu Streiks und Demonstrationen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Menschen protestieren beim Juniaufstand 1953 vor dem Brandenburger Tor.
Zum Anfang
Schließen
Schon unmittelbar nach der Veröffentlichung des Kommuniqués der SED vom 9. Juni 1953 kam es auf dem Land zu Protestaktionen. In der DDR war zu dieser Zeit jeder vierte Beschäftigte in der Landwirtschaft tätig. Viele Bauern waren mit den Zwangskollektivierungen und mit der Erhöhung der Mengen, die sie an die staatliche Handelsorganisation (HO) abgeben mussten, nicht einverstanden. Bauern traten aus den LPGs aus, einzelne LPGs lösten sich auf, es gab erste Streiks und Demonstrationen. Viele Menschen traten sogar aus der SED aus.

Mit Beginn der Demonstrationen in Berlin und den anderen großen Städten kam es auch zu Demonstrationen auf dem Land sowie in kleinen und mittelgroßen Städten. Ganze Dörfer machten sich auf den Weg zu Demonstrationen in benachbarte Städte. Dort wurden – wie in den Großstädten – in den Betrieben Streikleitungen gewählt, die Betriebsgewerkschaftsleitungen wurden abgesetzt.

Wie in den Großstädten hatten die Demonstrationszüge ähnliche Ziele: Rathäuser, Landratsämter, Dienststellen der SED und des MfS und Gefängnisse. Viele dieser Gebäude wurden erstürmt, verwüstet und teilweise in Brand gesetzt. Es gab Kundgebungen, zu denen sich spontan viele Menschen einfanden, bei denen Banner und Plakate mit den Forderungen nach Neuverhandlung der Normen, besseren Lebensbedingungen, dem Rücktritt der Regierung, freien Wahlen und der Wiedervereinigung präsentiert wurden. An mehr als 500 Orten kam es am 17. Juni zu Gewalt und Widerstand gegen die Staatsmacht.

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Demonstranten in Jessen, einer Kreisstadt im Bezirk Cottbus. Hier versammelten sich am 17. Juni 1953 Bauern aus den umliegenden Dörfern, um am Sitz der Kreisverwaltung lautstark zu protestieren.

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
Schon in der Nacht vom 16. auf den 17. Juni hatte sich die Führung der DDR mit den Sowjets über die Bekämpfung des Aufstandes abgesprochen; die militärische Niederschlagung des Aufstands war als letzte Option vorgesehen. Am späten Vormittag des 17. Juni wurden in Ostberlin die ersten sowjetischen Panzer in Bewegung gesetzt. Nach und nach kamen Hunderte Panzer allein in Berlin zum Einsatz. Ab etwa 12 Uhr feuerten sowjetische Soldaten aus automatischen Waffen Kugeln ab. Dabei kamen einzelne Menschen ums Leben.

Angesichts der militärischen Übermacht lösten sich die Demonstrationszüge auf. Auch in den anderen Städten der DDR beendeten sowjetische Soldaten mit ihren Panzern den Aufstand. Ab 21 Uhr galt der Ausnahmezustand. Es herrschte Kriegsrecht. Demonstrationen und Versammlungen waren verboten. Volkspolizei, MfS-Angehörige und sowjetische Einheiten verhafteten allein in der Nacht in Berlin ca. 2500 Männer und Frauen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Innerhalb kürzester Zeit hatte sich aus einer Protestbewegung, die sich insbesondere gegen die Normerhöhung und die Zwangskollektivierungen richtete, ein Volksaufstand in der Stadt und auf dem Land entwickelt. Beteiligte waren zunächst vorwiegend Arbeiterinnen und Arbeiter, dann schlossen sich Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft an. Auch Student*innen, Wissenschaftler*innen und Intellektuelle beteiligten sich.

Das Besondere an dem Aufstand war, dass er sich spontan entwickelte und von keiner Organisation gesteuert wurde. Die Entscheidungen zur Beteiligung an den Protestaktionen fielen auf der Ebene einzelner Betriebe, in denen bei Streikveranstaltungen Streikleitungen gewählt wurden (fast überwiegend waren das Männer, der Frauenanteil lag bei 5%). Dann wurde über Forderungen und über die Beteiligung an Protestaktionen abgestimmt. Schon der Austausch zwischen einzelnen Betrieben erfolgte über Abgesandte, die sich persönlich von einem zum nächsten Betrieb auf den Weg machten. Da die Medien in der DDR die Proteste totschwiegen, war der Radiosender RIAS die einzige Informationsquelle, die von vielen DDR-Bürgern genutzt werden konnte. So gelangten die Informationen über die Proteste in Berlin nach und nach in alle Teile der DDR.

Überall forderten die Demonstrierenden den Rücktritt der Regierung, freie Wahlen und die Wiedervereinigung. Der Zorn der Menschen richtete sich gegen alle Einrichtungen von Staat und Partei, die als Symbole der Unterdrückung angesehen wurden. In vielen Städten war die Übermacht der Protestierenden enorm. Die staatlichen Kräfte (reguläre Volkspolizei, Kasernierte Volkspolizei und Mitarbeiter des MfS) waren den Massen nicht gewachsen. Erstaunlicherweise erlahmte fast überall die Bewegung, sobald die Protestierenden die Oberhoheit gewonnen hatten. Dann erschienen sowjetische Panzer und die Demonstrierenden wurden vertrieben. Im Nachhinein wurde den sowjetischen Soldaten ein vergleichsweise besonnenes Vorgehen attestiert, weil sie mit den Panzern langsam fuhren, um keine Menschen zu überrollen.

Die sowjetische Besatzungsmacht hatte über einen Großteil der DDR den Ausnahmezustand verhängt. Er wurde nach und nach aufgehoben, zuletzt in Leipzig am 11.Juli 1953.

Mehr als eine Million Menschen nahmen an den Demonstrationen und Streiks teil. Etwa 15.000 Menschen wurden verhaftet. 55 Todesopfer lassen sich aufgrund von Quellen mit Sicherheit nachweisen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Flammen schlagen aus einem mehrstöckigen Gebäude aus. 

Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang

Welche Auswirkungen hatte der Aufstand?

Der Volksaufstand hatte der DDR-Führung die weitreichende Unzufriedenheit der Bevölkerung deutlich aufgezeigt. Nur dank der sowjetischen Besatzungsmacht konnte die SED weiterregieren.

Die sowjetischen Besatzer als auch die DDR-Führung reagierten zunächst mit aller Härte. In den Wochen nach dem Aufstand kam es weiter zu zahlreichen Verhaftungen. Die Verhafteten wurden zum Teil zu drakonischen Strafen verurteilt. Einige Menschen wurden sogar hingerichtet.

Nach den Ereignissen des 17. Juni baute die DDR-Führung den Sicherheitsapparat massiv aus, weil sie zukünftig nicht wieder von ähnlichen Protesten überrascht werden wollte.

Gleichzeitig machten Staats- und Parteiführung eine Reihe von sozialpolitischen Zugeständnissen.

Zum Anfang
Bereits am 17. Juni 1953 verhafteten kleine Trupps des MfS gezielt Menschen aus der Menge der Demonstrierenden heraus. Auch die sowjetischen Soldaten nahmen Menschen fest. Während des Aufstands gab es einzelne standgerichtliche Erschießungen durch Volkspolizisten und sowjetische Soldaten.

Nach der Niederschlagung des Aufstands gingen die Verhaftungen weiter. Die SED-Führung zeigte bei den von ihr angestrebten Prozessen große Härte bei der Bemessung der Strafen. Die DDR-Führung setzte einen eigenen Operativstab ein, der die Gerichte in den Bezirken der DDR anwies, eigene Strafsenate für den „17. Juni“ einzurichten. Die Urteile dieser Gerichte fielen vergleichsweise milde aus, wohl weil man weitere Unruhen in der Bevölkerung vermeiden wollte. Tatsächlich solidarisierten sich viele Menschen mit den Verhafteten und in einer Streikwelle im Juli 1953 forderten Arbeiter die Freilassung ihrer Kollegen. Die Machthaber lenkten ein und ließen zusätzlich weitere politische Urteile überprüfen. Es kamen bis Ende Oktober insgesamt 30.000 Menschen aus sowjetischen und aus DDR-Gefängnissen frei. Von den DDR-Gerichten wurden insgesamt etwa 1800 Angeklagte zu Haftstrafen verurteilt. Die Sowjets verhängten und vollstreckten fünf Todesurteile, DDR-Gerichte vollstreckten zwei Todesurteile.

Aber nicht allein Verhaftungen und Verurteilungen trafen die Menschen. Wer sich an den Protesten beteiligt hatte, musste damit rechnen, seinen Arbeitsplatz zu verlieren und keinen neuen zu finden. Dann blieb nur noch die Flucht aus der DDR als Ausweg. Als Mitglied der SED mussten Menschen, die protestiert hatten, mit dem Ausschluss aus der Partei rechnen. Zahlen dazu, wie viele berufliche und private Lebenswege nachhaltig zerstört wurden oder wer unter Repressionen zu leiden hatte, gibt es keine.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Zwei Personen stehen an der Anklagebank zum 17. Juni.
Zum Anfang




















Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Die erste Seite des Urteils des Berliner Stadtgerichts.Quelle: Bundesarchiv: BStU, MfS, AU, Nr. 487/53, Bd. 16, Bl. 12
Zum Anfang
Ich bin damit einverstanden, dass mir Diagramme von Datawrapper angezeigt werden. Mehr Informationen
Ansicht vergrößern bzw. verkleinern

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Bereits während der Niederschlagung der Protestaktionen in Berlin sahen etliche Menschen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten, keine Zukunft mehr für sich in der DDR und setzten sich nach Westberlin ab, was damals noch ohne erhebliche Probleme möglich war. Die Flucht über die innerdeutsche Grenze war erheblich gefährlicher, weil es seit 1952 eine 5 km breite Sperrzone gab, die gut bewacht wurde. Deshalb wählten die meisten Flüchtenden aus anderen Regionen der DDR den Umweg über Berlin. Die Fluchtbewegung ebbte nicht ab und wurde erst 1961 durch den Bau der Berliner Mauer sowie die massive Befestigung der innerdeutschen Grenze gestoppt.
Zum Anfang
Die Führung der SED und die Regierung der DDR waren in den Augen vieler Menschen Marionetten der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Nur mühsam gelang es der DDR-Führung in den folgenden Monaten, die Lage aus ihrer Sicht zu stabilisieren.

Um den Menschen entgegenzukommen, beschloss die SED eine Reihe von Maßnahmen: Die Normerhöhungen waren bereits rückgängig gemacht worden. Zusätzlich wurden die Löhne für Arbeiterinnen und Arbeiter erhöht und die Nahrungsmittelindustrie wurde zu Lasten der Schwerindustrie gefördert. In den HO-Geschäften (staatliche Einzelhandelsgeschäfte in der DDR) wurden die Preise für fast alle Waren um 10 bis 25 Prozent gesenkt.

Das Trauma des 17. Juni 1953 verfolgte die DDR-Führung bis zum Untergang ihres Staates. Deshalb wurde der Sicherheitsapparat massiv ausgebaut und die Bespitzelung der eigenen Bevölkerung in ungekannter Weise perfektioniert.

Um von den eigenen Fehlern abzulenken, suchte die SED die Schuld bei den westlichen Staaten:
„Feindliche Kräfte unter direkter Beteiligung und Führung amerikanischer Stellen und der Volksfeinde in Bonn organisierten in der Zeit vom 16. bis 22.6.1953 den Versuch eines faschistischen Umsturzes in der DDR.“

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Ein Lebensmittelgeschäft mit frischem Gemüse und anderen Auslagen.
Zum Anfang
Die SED-Führung zog ihre Schlüsse aus den Erfahrungen des 17. Juni. Zum einen richtete die SED in allen größeren Betrieben Betriebskampfgruppen ein. Diese setzten sich vor allem aus SED-Mitgliedern zusammen. Auf Ebene der Betriebe bildeten sie paramilitärische Verbände, die bewaffnet waren und nach Arbeitsschluss militärisch gedrillt wurden. Sie sollten für den Fall die Betriebe gegen „innere und äußere Feinde“ verteidigen. Zum anderen sorgte der Ausbau des Spitzelapparates der Stasi dafür, dass der Druck auf die Menschen wuchs, sich systemkonform zu verhalten.

Die SED schloss alle Mitglieder aus der Partei aus, die sich am Aufstand beteiligt hatten; davon waren 26.416 Personen betroffen. Der Staatspartei war klar geworden, dass nur die Erhöhung des Lebensstandards, vor allem eine bessere Versorgung mit Lebensmitteln, gegen die Unzufriedenheit der Bevölkerung helfen würde. Auch konnte so am ehesten die Tendenz zur Flucht in den Westen gebremst werden.

Damit die DDR-Führung nicht mehr als abhängig von Moskau erschien, gewährten ihr das Regime aus Moskau mehr politischen Gestaltungsspielraum. Dies und eine langsame Verbesserung der wirtschaftlichen Lage trugen zur allmählichen Konsolidierung der SED-Führung bei.

Dennoch ging die „Abstimmung mit den Füßen“ weiter. Jeden Monat verließen Tausende Menschen die DDR. Schließlich sah die DDR-Führung in Rücksprache mit den Sowjets keine andere Lösung mehr, als die Fluchtwege endgültig zu verschließen. Am 13. August 1961 begann der Bau der Berliner Mauer. Für DDR-Bürger war der Übergang aus dem Ostsektor der Stadt in die westlichen Sektoren jetzt nicht mehr möglich. Westberliner durften nur zeitweilig unter Auflagen zu Besuchen in den Ostteil der Stadt reisen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Die Mauer an der Bernauer Straße im französischen Sektor. 
Zum Anfang

Wie wurde an den Volksaufstand erinnert?

Als die ersten Berichte über Streiks und Demonstrationen in der DDR in den Medien der Bundesrepublik auftauchten, hielten sich die Politiker aller Parteien zunächst zurück. Niemand konnte sich vorstellen, dass in der DDR das Volk gegen die Staatspartei SED und die Regierung aufbegehren könnte. Es wurde befürchtet, dass die Aktionen eine groß angelegte Inszenierung der DDR-Führung seien. Als am Nachmittag des 17. Juni der Aufstand von sowjetischen Panzern niedergeschlagen wurde, erklärte Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) im Bundestag, dass seine Regierung „in innigster Verbundenheit“ zu den Aufständischen stehe. Dass die Menschen in der DDR aufbegehrten und freie Wahlen sowie die Wiedervereinigung forderten, deutete Adenauer als Beleg für den Kurs seiner Politik. Alle Parteien (bis auf die KPD) waren sich schnell einig, den 17. Juni fortan als „Tag der deutschen Einheit“ und gesetzlichen Feiertag zu begehen. Dies beschloss der Deutsche Bundestag bereits am 3. Juli 1953.

Wer dagegen in der DDR nur den Versuch unternahm, an den 17. Juni zu erinnern, musste mit konsequenter Verfolgung durch die Behörden und mit Strafe rechnen.
Zum Anfang
Die DDR-Führung hatte den 17. Juni als „Versuch eines faschistischen Umsturzes in der DDR“ eingestuft, der aus dem Westen initiiert worden sei. Eine Auseinandersetzung mit den Ereignissen fand offiziell nicht statt.

Offizielle Politik war es, das Ereignis totzuschweigen. So mussten alle Häftlinge, die wegen Teilnahme am Aufstand im Gefängnis gesessen hatten, sich bei ihrer Entlassung verpflichten, zukünftig über die Ereignisse zu schweigen. Für die DDR-Führung blieb der 17. Juni 1953 eine traumatische Erfahrung, die ihr Verhalten gegenüber der eigenen Bevölkerung auf Dauer prägte.

Besonders deutlich wird dies an einem Wortwechsel, der im Rahmen einer Dienstbesprechung in der MfS-Spitze am 31. August 1989 stattfand. Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit, stellte die Frage: „Ist es so, dass morgen der 17. Juni ausbricht?“ Darauf antwortete der MfS-Oberst Dieter Dangrieß: „Der ist morgen nicht, der wird nicht stattfinden, dafür sind wir ja auch da.“

Es sollte sich in Kürze zeigen, dass Dangrieß sich in seiner Einschätzung getäuscht hatte. Erneut formierten sich in der ganzen DDR Demonstrationszüge, die das System letztlich zum Einsturz brachten. Die Staats- und Parteiführung konnte jetzt nicht mehr auf die Rückendeckung aus Moskau setzen, da Michail Gorbatschow in der Sowjetunion einen Reformprozess angestoßen hatte, der auch den Staaten in Ostmitteleuropa erlaubte, selbst über ihre Zukunft zu bestimmen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Portaitbild von Otto Emil Franz Grotewohl, Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik
Zum Anfang
Bereits kurz nach der Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR hatte der Deutsche Bundestag den 17. Juni als gesetzlichen Feiertag bestimmt. Bundespräsident Heinrich Lübke erklärte ihn im Jahr 1963 zusätzlich zum nationalen Gedenktag. Er wurde als „Tag der deutschen Einheit“ mit einer zentralen Gedenkfeier im Deutschen Bundestag begangen; auch in den Bundesländern fanden Veranstaltungen statt. In vielen Städten und Gemeinden wurden Denkmäler oder Gedenkorte eingerichtet.

Auf Initiative von Wilhelm Wolfgang Schütz (1951 bis 1957 Berater des Bundesministers für gesamtdeutsche Fragen) und des SPD-Politikers Herbert Wehner wurde 1954 das Kuratorium "Unteilbares Deutschland" gegründet. Diese von Persönlichkeiten aus allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens unterstützte Organisation sollte den Willen der Bevölkerung zum Erreichen der Wiedervereinigung mobilisieren. Am 17. Juni organisierte das Kuratorium beispielsweise Staffelläufe, an denen Kinder und Jugendliche teilnahmen. Plakate erinnerten die Menschen daran, dass Deutschland unteilbar sei, etc.

Allen Bemühungen zum Trotz nahm das Interesse der Bundesbürger an den Feiern zum 17. Juni allmählich ab. Als 1961 schließlich die Mauer gebaut wurde, rückte eine mögliche Wiedervereinigung in weite Ferne. Die „neue Ostpolitik“ unter Willy Brandt führte dazu, dass ernsthaft erwogen wurde, den Feiertag ganz abzuschaffen. Es war paradox: In dem Teil Deutschlands, in dem der Aufstand stattgefunden hatte, durfte nicht daran erinnert werden. Und in dem Teil Deutschlands, der dem Aufstand nur zugeschaut hatte, erkannten viele nicht, warum sie sich an das Ereignis erinnern sollten.

Nach der Wiedervereinigung bestimmte der Bundestag den 3. Oktober zum Tag der Deutschen Einheit, und der 17. Juni wurde stillschweigend als Feiertag abgeschafft.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Plakat der Bundeszentrale für Heimatdienst
Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart: J 153
Zum Anfang





















Zum Anfang



















Was ist auf dem Bild zu sehen?

Plakat der Bundeszentrale für Heimatdienst
Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart: J 153
Zum Anfang
Schließen
Interessanterweise setzte nach der Abschaffung des Feiertages eine intensive wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Volksaufstand ein. Die Historiker*innen konnten nun auf bisher geheime Unterlagen zugreifen. Die Zeitzeugen, denen es in der DDR verboten war, über die Ereignisse des 17. Juni zu sprechen, konnten ihre Erinnerungen zu Protokoll geben. So erschienen im Umfeld des 50. Jahrestages des 17. Juni eine große Anzahl von historischen Arbeiten, die viele neue Details ans Licht brachten und das wahre Ausmaß des Aufstandes in allen Facetten wissenschaftlich dokumentierten. Auch in den Medien war der Jahrestag sehr präsent.

Das Thema „Erinnerungskultur“ fand seinen Niederschlag in Veranstaltungen an Universitäten, aber auch in Gedenkstätten oder anderen Bildungseinrichtungen. Mittlerweile wird der 17. Juni 1953 allgemein als ein bedeutsamer Volksaufstand bewertet, der sich in eine Reihe von Aufständen in den Staaten des damaligen Ostblocks einreiht und den drängenden Wunsch der Menschen nach einem Leben in Freiheit und Selbstverantwortung dokumentiert.

2023 fand eine Gedenkveranstaltung für die Opfer des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953 am „Mahnmal des Volksaufstandes“ in Berlin-Wedding statt. Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete dabei den 17. Juni 1953 als „eines der wichtigsten und auch stolzesten Ereignisse in der Freiheitsgeschichte unseres Landes.“ Und der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, erklärte: „Der 17. Juni sollte künftig ein Tag der Freiheit und Demokratie in ganz Europa sein!“

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Video der Gedenkveranstaltung in Berlin 2023

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang

Impressum

Herausgeber
Eduversum GmbH in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Aufarbeitung (BStA)

Eduversum GmbH
Taunusstraße 52
65183 Wiesbaden

Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Kronenstraße 5
10117 Berlin

Redaktionelle Betreuung
Umgesetzt wird die Internetseite „Protest (er)zählt!“ durch die Eduversum GmbH.

Konzept, Projektleitung und Redaktion
Eduversum GmbH
Taunusstraße 52
65183 Wiesbaden

Vertretungsberechtigter
Michael Jäger (Geschäftsführer)

Konzept, Projektleitung und Redaktion
Frauke Hagemann (verantwortlich), Peter Wigand
E-Mail: info@eduversum.de

Fachliche Beratung
Bundesstiftung Aufarbeitung, Katharina Hochmuth
Kathrin Semechin, Dominik Pick

Autorenschaft
Martin Bredol

Layout & Comic
Anja Malz Grafikdesign

Programmierung
Pageflow (Codevise Solutions GmbH)

Rechtshinweis
Die Eduversum ist Anbieter im Sinne der §§ 18 Abs.2 MStV; 5 Abs. 1 TMG. Alle Inhalte dieser Internetseite wurden sorgfältig erarbeitet und recherchiert. Diese Informationen sind ein Service der Bundesstiftung Aufarbeitung (BStA) und der Eduversum GmbH. Alle Informationen dienen ausschließlich zur Information der Besucher/innen des Onlineangebotes. Im Übrigen ist die Haftung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit beschränkt. Es wurde Wert daraufgelegt, zutreffende und aktuelle Informationen bereitzustellen. Gleichwohl können Fehler auftreten. Die Anbieter weisen darauf hin, dass die Informationen auf den Webseiten allgemeiner Art sind, die nicht auf die besonderen Bedürfnisse im Einzelfall abgestimmt sind. Die Anbieter übernehmen keine Gewähr für Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen.

Haftung für Inhalte
Die BStA und die Eduversum GmbH übernehmen keine Gewähr für die Aktualität, Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen und Dienste. Alle zur Verfügung gestellten Informationen wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen und Gewissen recherchiert und zusammengestellt. Auf spätere Änderungen von unmittelbar verlinkten Seiten sowie auf Inhalte nachfolgender Seiten fremder Angebote haben wir jedoch keinen Einfluss. Wir distanzieren uns daher ausdrücklich von späteren Änderungen unmittelbar verlinkter Seiten, den Inhalten auf nachfolgenden Seiten sowie deren Anbietern.
Jede/-r Nutzer/-in bleibt selbst für die Überprüfung der Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität der zur Verfügung gestellten Informationen verantwortlich.

Copyright-Hinweis
Der Gebrauch der Inhalte der virtuellen Ausstellung im regulären Schulunterricht ist ausdrücklich erwünscht und erlaubt. Jede über den Gebrauch dieser Inhalte im Schulunterricht und die gesetzlich zulässigen Fälle (zum Beispiel das Zitatrecht oder Vervielfältigungen zum privaten Gebrauch) hinausgehende Verwertung von urheberrechtlich geschützten Inhalten, insbesondere durch Vervielfältigung und Verbreitung auch in elektronischer Form, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung der Rechteinhaber.

Bildrechte
Screendesign: © Adobe Stock, iStock

Modul I: 17. Juni 1953 - Volksaufstand in der DDR
zeitzeugenportal.de
Bundesarchiv, Bild 183-20042-0001, Heinz Junge
Bundesarchiv / BArch, NY 4090/699 Bl. 30
Sächsisches Staatsarchiv, 13782 Sammlung Bewegtbilder, Nr. AV 13782-102
Bundesarchiv, Bild 183-20042-0003, Heinz Junge
ullstein Bild / ullstein Bild
Bundesarchiv, Bild 183-20027-0003, Heinz Junge
Bundesarchiv, Bild 183-20524-0002, Heinz Junge
Bundesarchiv / BStU, MfS, AU, Nr. 487/53, Bd. 16, Bl. 12
Akg-images / ddrbildarchiv.de
Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 72 0325
Alamy Stock Foto / World History Archive
Landesarchiv Baden-Württemberg / Hautstaatsarchiv Stuttgart J 153 Nr 539

Modul II: 1968 - Prager Frühling 
Bridgeman Images / Archives Charmet
ullstein Bild / ADN-Bildarchiv
Tschechische Literaturbibliografie / Institut für tschechische Literatur CAS
Alamy Stock Foto / CTK
Tschechische Literaturbibliografie / Institut für tschechische Literatur CAS
Interfoto / ERB
Ullstein Bild / United Archives
Picture Alliance / akg-images / akg-images
Alamy Stock Foto / Keystone Press
Interfoto / Milon Novotny
Alamy Stock Foto / CTK
Alamy Stock Foto / CTK
Picture Alliance / CTK / Oldrich Picha
Alamy Stock Foto / Pictorial Press Ltd
Robert-Havemann-Gesellschaft/ HL 180
SZ Photo / Libor Hajsky / CTK Photobank
Alamy Stock Foto / CTK
Bundesarchiv / BStU, MfS, HA IX, Nr. 25453, Bl. 194
Picture Alliance / akg-images / akg-images

Modul III: Die 68er Bewegung 
Picture Alliance / Klaus-Dieter Heirler / Klaus-Dieter Heirler
ullstein Bild / Gert Kreutschmann
Alamy Stock Foto / imageBROKER/klaus Rose
Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68 0217
ullstein Bild / Alex Waidmann
ullstein Bild / dpa
Alamy Stock Foto / Shawshots
Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68 0528
Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68 0218
Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68 0411
Alamy Stock Foto / Philippe Gras
Alamy Stock Foto / imageBROKER/klaus Rose
Alamy Stock Foto / Keystone Press
Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, 68 0412
Ullstein Bild / dpa
Alamy Stock Foto / imageBROKER/klaus Rose 
Picture Alliance / dpa / Klar
Picture Alliance / dpa / Lutz Rauschnick
Alamy Stock Foto / imageBROKER/klaus Rose

Zum Anfang

Historische EInführung

Zum Anfang
In den Staaten Ostmitteleuropas, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Einflusssphäre der Sowjetunion lagen, kam es immer wieder zu Protesten gegen die in diesen Staaten herrschenden kommunistischen Parteien: 1953 in der DDR, 1956 in Polen und Ungarn – um nur die wichtigsten zu nennen.

Die Partei- und Staatsführung unter Alexander Dubček in der Tschechoslowakei ging 1968 noch weiter und begann ihrerseits damit, einen Reformprozess in Gang zu setzen. Sie wollte mit den Veränderungen überkommene Strukturen aufbrechen und mit der Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen die wirtschaftliche Situation des Landes verbessern. Auch der bisher offiziell weitgehend ignorierte Konflikt zwischen Tschechen und Slowaken sollte entschärft werden. Die Bevölkerung nahm die neuen Freiheiten mit großer Zustimmung auf. Aus einer sich neu formierenden Öffentlichkeit heraus wurden noch weiter gehende Reformmaßnahmen gefordert.

Die Sowjetunion und die angrenzenden sozialistischen Staaten betrachteten die Entwicklung in der Tschechoslowakei mit Sorge, denn sie befürchteten ein Ausgreifen der Reformwünsche auf die Bevölkerung in ihren Staaten. Nach mehreren Ermahnungen an die Adresse der tschechoslowakischen Partei- und Staatsführung beendeten nach nur gut einem halben Jahr Truppen des Warschauer Paktes, die in die Tschechoslowakei einmarschierten, den sogenannten „Prager Frühling“ mit Gewalt.

Anmerkung: Wenn von der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei die Rede ist, wird hier die Abkürzung des tschechischen Namens „Komunistická strana Československa“ (KSČ) genutzt. Im Deutschen sind auch die Abkürzungen KPT oder KPČ gebräuchlich.

Zum Anfang

Datenschutz

Der Schutz deiner Daten ist für uns wichtig, und wir nehmen unsere Verantwortung hinsichtlich der Sicherheit deiner personenbezogenen Daten sehr ernst.
Wir verpflichten uns zum Schutz aller personenbezogenen Daten wie auch zur Transparenz darüber, welche Daten wir über dich erfassen und zu welchem Zweck wir diese verwenden.

Um den neuesten Änderungen in der Datenschutzgesetzgebung auf Basis der am 25. Mai 2018 europaweit in Kraft getretenen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zu entsprechen und unsere Verpflichtung zur Transparenz aufzuzeigen, haben wir unsere Datenschutzerklärung aktualisiert.
Am Umgang mit deinen Daten ändert sich dabei jedoch grundsätzlich nichts. Wenn du genauere Einzelheiten erfahren möchtest, schaue dir unsere Datenschutzrichtlinien an unter:
https://eduversum.de/impressum/

Kontaktadresse für datenschutzrelevante Anfragen:
info@eduversum.de
Zum Anfang

Was waren Ursachen und Auslöser der Reformpolitik?

Die Kommunistische Partei (KSČ) genoss nach dem Zweiten Weltkrieg wegen ihres Widerstandes während der Besatzungszeit Vertrauen bei einem Großteil der Bevölkerung und wurde bei freien Wahlen im Jahr 1946 stärkste Kraft. 1948 schaltete sie alle anderen Parteien aus und setzte ihren Führungsanspruch mit aller Macht durch. In politischen Schauprozessen gegen angebliche Regimegegner fielen zwischen 1948 und 1952 insgesamt 233 Todesurteile. Insgesamt hatten etwa 250.000 Menschen in dieser Zeit unter Repressionen zu leiden. Jeder, der im Verdacht stand, von der Linie der Partei abzuweichen, musste mit Verhaftung und Gefängnis rechnen.

Mit diesen Maßnahmen sollte jede Opposition im Land erstickt werden. Als nach dem Tod Stalins in anderen Staaten des Ostblocks behutsam ein „Neuer Kurs“ beschritten wurde, gab es vonseiten der KSČ nur halbherzige Schritte in Richtung Entstalinisierung. Erst in den 1960er-Jahren, etwa anderthalb Jahrzehnte später, begann die Rehabilitierung der Opfer im Rahmen einer vorsichtigen Liberalisierung.

Zum Anfang
Der spektakulärste Prozess fand 1952 nach dem Muster stalinistischer Schauprozesse der 1930er-Jahre statt. Tatsächlich wirkte der sowjetische Geheimdienst bei der Vorbereitung mit. Angeklagt waren der ehemalige Generalsekretär der KSČ, Rudolf Slánský, und 12 weitere führende Parteimitglieder. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie westliche Spione und Agenten im Rahmen einer antikommunistisch-zionistischen Verschwörung seien. Von den 13 Angeklagten wurden elf hingerichtet, darunter auch Slánský.

Eine erste Überprüfung der Urteile fand im Jahr 1956 statt – auf Druck der Sowjetunion. Dort hatte Nikita Chruschtschow, der Vorsitzende der KPdSU, auf deren 20. Parteitag im Jahr 1956 zugegeben, dass die stalinistischen Schauprozesse ein Fehler gewesen seien. In der Tschechoslowakei hingegen wurden alle Urteile bestätigt, es gab nur wenige Strafmilderungen. Von der Überprüfung und dem Ergebnis erfuhr die Öffentlichkeit nichts. Innerhalb der KSČ nahmen kritische Stimmen zu. Funktionäre und einfache Parteimitglieder stellten die Rechtmäßigkeit der Prozesse in Frage. Es setzte ein Denkprozess ein, der sich nicht mehr stoppen ließ.

Erst 1963 kam eine neue Kommission zu dem Ergebnis, dass es die angebliche Verschwörung nie gegeben hatte; die Urteile wurden aufgehoben. Dennoch wurden die Opfer nicht voll rehabilitiert. Als die Öffentlichkeit von der Aufhebung der Urteile erfuhr, kamen viele Fragen auf, u. a. nach der Rolle der Parteifunktionäre, die seinerzeit die Urteile verteidigt hatten und noch immer leitende Funktionen innehatten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Der Schauprozess gegen Rudolf Slánský und weitere führende Parteifunktionäre.
Zum Anfang
Das Vertrauen, das die KSČ nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bevölkerung genoss, war durch die bis 1954 andauernden Schauprozesse erschüttert. Die Partei stand fest an der Seite der Sowjetunion.

Im Jahr 1956, als es in Polen und Ungarn große Aufstände gegen die herrschenden Parteien gab, blieb es in der Tschechoslowakei ruhig. Generalsekretär der KSČ war seit 1953 Antonín Novotný; ab 1957 war er zudem Präsident der Tschechoslowakei. Er war mitverantwortlich für die Politik der Schauprozesse und verzögerte nach Kräften eine Entstalinisierung in seinem Land. Erst zu Beginn der 1960er-Jahre schwenkte er um und berief angesichts einer Wirtschaftskrise reformwillige Parteimitglieder in das Zentralkomitee der KSČ.

Wirtschaftlich war es in den 1950er-Jahren aufwärts gegangen. 1961 und 1962 brach die Wirtschaftsleistung plötzlich ein. Auf dem 12. Parteitag der KSČ 1962 beschwor die Partei den Sieg des Kommunismus mithilfe einer wissenschaftlich-technischen Revolution. Jetzt konnte der Wirtschaftswissenschaftler Ota Šik die Parteiführung überzeugen, dass der Ausweg aus der Krise in der Einführung von marktwirtschaftlichen Elementen in das System der Planwirtschaft liege. 1963 wurde eine Kommission eingesetzt, die Wirtschaftsreformen vorschlagen sollte. 1966 beschloss die KSČ die beschleunigte Einführung der Pläne dieser Kommission.

Im Zuge der Diskussionen um die Rolle der Schauprozesse setzte die Partei 1966 eine weitere Kommission ein, die unter der Leitung von Zdeněk Mlynář ein Konzept der Demokratie in der sozialistischen Gesellschaft erarbeiten sollte.

Šik und Mlynář erhielten bei Parteiveranstaltungen große Zustimmung für ihre Reformpläne und verbreiteten so ihre Ideen. Obwohl die Dringlichkeit von Reformen von einem Großteil der Bevölkerung und der Parteifunktionäre erkannt wurde, bremste die Führung der KSČ unter Antonín Novotný weiter.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Unterzeichung der neuen Verfassung der CSSR, 1960.
Zum Anfang
Ende April 1956 tagte der tschechoslowakische Schriftstellerverband. Die Kritik Chruschtschows an der Politik Stalins lag erst wenige Wochen zurück, da forderte der tschechische Schriftsteller Jaroslav Seifert, dass die Schriftsteller*innen das Gewissen der Nation sein müssten. Tatsächlich waren es vor allem Schriftsteller*innen und Intellektuelle, die immer wieder Kritik an der herrschenden Partei übten. Dafür mussten sie ständig in der Furcht vor Repressionen leben.

In den 1960er-Jahren wurden ihre Forderungen lauter. Die tschechischen und slowakischen Schriftsteller verbaten sich staatliche Einmischung in ihre Verbände und forderten Meinungsfreiheit. Ihre Verbandszeitschriften entwickelten sich zu Sprachrohren unterdrückter Meinungen. Nach und nach verschoben sie die Grenzen des Erlaubten zu ihren Gunsten.

Auf dem 4. Tschechoslowakischen Schriftstellerkongress im Juni 1967 kritisierte der Journalist Ludvík Vakulík die politische Entwicklung der letzten 20 Jahre, weil sie zu einer völligen Demoralisierung der Menschen geführt habe. Für diese Äußerungen, die eine massive Kritik am bestehenden System darstellten, wurde er (wie auch andere, so z. B. Pavel Kohut und Ivan Klima) aus der Partei ausgeschlossen. Die KSČ schlug einen härteren Kurs gegenüber den Schriftsteller*innen ein.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Die erste Ausgabe von „Literární Listy“ erschien am 1. März 1968. Die Überschrift lautet: "Vernunft und Gewissen".
Die Quelle wurde mit freundlicher Unterstützung von der Tschechischen Litaraturbibliografie zur Verfügung gestellt. Sie stammt aus dem Digitalen Zeitschriftenarchiv, betrieben vom Institut für tschechische Literatur des CAS, online abrufbar unter:
https://clb.ucl.cas.cz/ (ORJ-Code: 90243, hier unter: https://archiv.ucl.cas.cz/index.php?path=LitL/1.1968/1/1.png.

Zum Anfang
Zum Anfang
Als im Jahr 1956 in Ungarn und Polen heftige Unruhen ausbrachen, blieb es in der ČSR vergleichsweise ruhig. Nur etwa 7.000 Studierende protestierten in Prag und Bratislava gegen die Kommunistische Partei und forderten mehr Freiheiten. Im Zuge der Entstalinisierung waren ihnen die traditionell im Mai stattfindenden studentischen Majales-Feste erstmals seit Jahren wieder genehmigt worden.

Ab etwa 1963 entwickelte sich in Prag und anderen Universitätsstädten eine oppositionelle Studentenszene.

Am 31. Oktober 1967 feierte das Zentralkomitee (ZK) der KSČ auf der Prager Burg den 50. Jahrestag der Oktoberrevolution. Zur gleichen Zeit demonstrierten auf der Prager Kleinseite Studierende, die bessere Lebensbedingungen im Rahmen ihres Studiums forderten. Der Protest wurde von der Polizei brutal niedergeschlagen. Eine Woche später forderten die Studierenden, dass die Polizisten zur Rechenschaft gezogen werden, über die Vorgänge im Parlament debattiert und dass eine den Tatsachen entsprechende Berichterstattung in der Presse erfolgen solle. Sollten die Forderungen nicht erfüllt werden, drohten sie mit weiteren Protesten.

Die Partei reagierte zwiespältig: die Kritik an den Missständen sei berechtigt, aber die Demonstration sei kein passendes Mittel gewesen, um auf die Probleme hinzuweisen. Der ganze Vorgang solle noch weiter untersucht werden. Das Ganze stellte sich als Hinhaltetaktik heraus. Es zeigte sich, dass die Partei in einer Zwickmühle steckte: Einerseits unterdrückte sie die Proteste gewaltsam. Andererseits wollte sie die Studierenden, die als zukünftige Fachkräfte in der Wirtschaft dringend benötigt wurden, nicht verlieren.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
1965 hatte die KSČ den Studierenden in den Universitätsstädten erlaubt, ihren traditionellen Majales-Umzug zu veranstalten – das Foto zeigt den Umzug in Prag. Dabei ging es ein wenig wie im Karneval zu.
Zum Anfang
Schließen
Im Zentralkomitee der KSČ befürchteten die liberaler eingestellten Mitglieder, dass auch ihre Reformprojekte der neuen harten Linie Novotnýs und seiner Anhänger zum Opfer fallen könnten. In einer Sitzung des ZK, die am selben Tag wie die Studentenproteste stattfand, ergriff Alexander Dubček das Wort und forderte grundsätzliche Veränderungen.

Damit stellte er sich gegen Novotný. Außerdem setzte sich Dubček – der selbst Slowake war – für eine Neuordnung des Verhältnisses von Tschechen und Slowaken ein. Damit sprach er ein brennendes Thema an, denn die Slowaken fühlten sich als kleinerer Teil des gemeinsamen Staates in vielerlei Hinsicht benachteiligt. Darüber hinaus stellte Dubček infrage, ob es berechtigt sei, dass die Führung des Staates und der Partei in einer Hand liege. Novotný griff Dubček scharf an und kritisierte ihn persönlich. Am Ende konnte er sich noch einmal durchsetzen.

Vor der nächsten Sitzung des ZK wurden zahlreiche Gespräche hinter verschlossenen Türen geführt. Am 19. Dezember 1967 trat das ZK erneut zusammen. Novotný entschuldigte sich für seine Ausfälle bei der letzten Sitzung, blieb in der Sache jedoch hart. Es kam zu heftigen Diskussionen, in deren Verlauf sich das Blatt gegen Novotný zu wenden schien. Nach drei Tagen wurde die Sitzung unterbrochen und für den 3. Januar 1968 die Fortsetzung anberaumt. Erneut kam es zu langen und hitzigen Diskussionen; am 5. Januar trat Antonín Novotný schließlich als Parteichef zurück. Zu seinem Nachfolger wählte das ZK Alexander Dubček.

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Der Prager Frühling 1968

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang

1968 - Prager Frühling

Nach oben scrollen
Nach links scrollen
Nach rechts scrollen
Nach unten scrollen

Zur Startseite

Zum Anfang

Welche Inhalte kennzeichneten die Reformpolitik der KSČ?

Wie es nach dem Amtsantritt von Alexander Dubček und dem Rücktritt Antonín Novotnýs als Parteichef weitergehen würde, war zunächst unklar. Man konnte Dubček weder den Hardlinern noch den Reformern in der Partei eindeutig zuordnen. Er hatte in den 1950er-Jahren in Moskau eine Ausbildung an der Parteihochschule genossen und war ein überzeugter Kommunist.

Innerhalb weniger Wochen änderte sich dieses Bild. Zwei einschneidende Ereignisse veränderten die politische Landschaft in der Tschechoslowakei: Am 4. März 1968 wurde die Zensur abgeschafft und am 5. April beschloss die KSČ ein Aktionsprogramm, das Reformen in allen Bereichen von Partei und Staat festschrieb. Der Soziologe und Philosoph Radovan Richta umschrieb die angestrebten Veränderungen mit der später häufig zitierten Formulierung als „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“.

Zum Anfang
Alexander Dubček wirkte bei seinen ersten Auftritten unsicher. Aber im Unterschied zu seinem Vorgänger trat er nicht bestimmend, sondern moderierend auf. Die Verfechter eines Reformkurses meldeten sich zu Wort und erwarteten vom neuen Parteichef Schritte in Richtung Reformen.

Tatsächlich gab es erste Anzeichen für Veränderungen. Die Zeitschrift „Literární noviny“ war wegen ihrer kritischen Artikel im September 1967 auf Beschluss des ZK der KSČ dem Schriftstellerverband entzogen und dem Ministerium für Kultur und Informationen unterstellt worden. Ab dem 29. Februar 1968 durfte sie unter dem Namen „Literární Listy“ wieder in der Verantwortung des Schriftstellerverbands erscheinen.

Für aufmerksame Beobachter war dies ein deutliches Signal dafür, dass keine Zensur mehr ausgeübt wurde. Innerhalb kürzester Zeit verwandelten sich die Zeitungen und Zeitschriften des Landes in Medien, die informierten und aufklärten, anstatt Meldungen der Partei zu veröffentlichen. Es gab aber im ZK der KSČ auch eine Gruppe von Parteimitgliedern, die den Wechsel in der Parteiführung als „Putsch bourgeoiser Elemente“ bezeichneten. 

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Die erste Ausgabe von „Literární Listy“ erschien am 1. März 1968. Die Überschrift lautet: "Vernunft und Gewissen".
Die Quelle wurde mit freundlicher Unterstützung von der Tschechischen Litaraturbibliografie zur Verfügung gestellt. Sie stammt aus dem Digitalen Zeitschriftenarchiv, betrieben vom Institut für tschechische Literatur des CAS, online abrufbar unter:
https://clb.ucl.cas.cz/ (ORJ-Code: 90243, hier unter: https://archiv.ucl.cas.cz/index.php?path=LitL/1.1968/1/1.png.









Zum Anfang
Etwa zur gleichen Zeit versetzte ein Skandal die Tschechoslowakei in Aufregung. General Jan Šejna hatte eine erstaunliche Karriere vom Arbeiter auf dem Land zum General hingelegt; dabei war seine Freundschaft zum Sohn von Antonín Novotný sehr hilfreich. Šejna drohte ein Prozess wegen Wirtschaftsspionage; der drohenden Verhaftung entzog er sich durch Flucht, die ihn auf Umwegen in die USA führte. Dort händigte er dem CIA geheime Mobilmachungspläne des Warschauer Paktes aus. Erstmals konnte die Presse ungehindert die ganzen Dimensionen von Nepotismus und Korruption innerhalb des bisherigen Systems ausleuchten und öffentlich machen.

Auf Staatspräsident Novotný fiel ein dunkler Schatten. Jetzt wurde ihm auch u. a. seine Verantwortung für die Schauprozesse der 1950er-Jahre angelastet. Es war offensichtlich, dass er seinen Posten räumen musste. Am 22. März trat er von seinem Amt zurück.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Portraitbild von General Jan Šejna, Oberster Politoffizier der Tschechoslowakischen Volksarmee
Zum Anfang
Schließen
Am 5. April 1968 verabschiedete das ZK der KSĆ ein Aktionsprogramm, das ein Schlüsseldokument des „Prager Frühlings“ darstellt. Zu Beginn des Dokumentes wird – wie in realsozialistischen Staaten üblich – die Erfolgsgeschichte der KSĆ auf dem Weg zum Sozialismus gelobt. In das Lob mischt sich aber viel Kritik an den bisherigen Entwicklungen, was zu folgender Forderung führt: „Es gilt, das ganze politische System so umzubauen, dass es eine dynamische Entwicklung der sozialistischen gesellschaftlichen Beziehungen ermöglicht.“ Dann werden die Forderungen im Einzelnen präsentiert, die hier grob zusammengefasst sind:
  • Ein zu entwickelndes Gesellschaftsmodell einer „sozialistischen Demokratie“ soll zugleich pluralistisch und sozialistisch sein.
  • Die KSĆ verzichtet auf den absoluten Herrschaftsanspruch, Oppositionsparteien will sie jedoch nicht zulassen.
  • Bürgerrechte wie Pressefreiheit, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz werden gewährt. Nur Bestrebungen, die sich „gegen die Gesellschaft“ richten, sollen nicht toleriert werden. 
  • Gerichte sind zukünftig nur an die Gesetze gebunden, eine politische Einflussnahme auf die Rechtsprechung soll ausgeschlossen werden. Die Opfer politisch motivierter Justizurteile werden rehabilitiert.
  • Reisefreiheit: Reisen in alle Länder sind zukünftig möglich.
  • Es wird eine Form von Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Nationalversammlung eingeführt. Ämterhäufung bei einzelnen Personen oder Stellen wird ausgeschlossen. Ein neues Wahlgesetz wird vorbereitet.
  • Den Konflikt zwischen Tschechen und Slowaken wird eine „endgültige föderative Regelung“ beenden.
  • „Ohne Unternehmungsgeist kommt man auch im Sozialismus nicht aus.“ Unter dieser Überschrift wird gefordert, dass Unternehmen künftig selbstständig wirtschaften und entscheiden. Der Staat zieht sich auf allgemeine Vorgaben und Lenkungsfunktionen zurück. Kurz gesagt: Liberalisierung ja, aber im Rahmen einer Planwirtschaft.
  • In der Kunst wird völlige Freiheit herrschen, allerdings ist die Kunst an einen gesellschaftlichen Auftrag gebunden. Kultur, Kunst und Bildung werden staatlich gefördert.
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
05.04.1968 Prager Frühling - KPC verabschiedet Aktionsprogramm

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Am 4. März 1968 wurde die Zensur in der Tschechoslowakei offiziell abgeschafft; Presse, Rundfunk und Fernsehen nutzten ihre neuen Freiheiten in vollen Zügen. Eine nach Informationen verlangende Leserschaft wurde mit immer neuen Nachrichten versorgt. In Funk und Fernsehen entstanden neue Formate, bei denen Zuschauer und Zuhörer live zu politischen Fragen Stellung beziehen konnten. Politiker mussten jetzt ihre Positionen vor Journalisten, die kritische Fragen stellten, verteidigen.

Auch bei den traditionellen Feiern zum 1. Mai 1968 war deutlich sichtbar, was sich bereits geändert hatte. Es kamen weit mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer als in den vergangenen Jahren. Sie wirkten erfreut und bekräftigten damit den eingeschlagenen Weg der Parteiführung. Neben offiziellen Transparenten kamen selbstgemalte Plakate zum Vorschein, wie eines, auf dem zu lesen war: „Zum ersten Mal freiwillig!“ Dies zeigte, dass man bisher zur Teilnahme an den Feierlichkeiten verpflichtet war. Auf anderen Transparenten las man: „Pressefreiheit“ oder auch „Rehabilitation“.

Am 4. Mai organisierten Studierende eine weitere Demonstration, an der rund 3.000 Studierende teilnahmen. Sie forderten mehr Demokratie und das Ende des Machtmonopols der KSĆ. Es zeigte sich immer deutlicher, dass nicht mehr die Partei den Kurs vorgab, sondern dass die Öffentlichkeit zur treibenden Kraft der politischen Entwicklung geworden war.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Die von der KSĆ organisierte Parade zum 1. Mai 1968 wird angeführt (v.l.n.r.) vom stellvertretenden Ministerpräsident.
Zum Anfang
Die Reformer in der KSĆ versicherten , dass es in ihrem Land keine antisozialistischen Kräfte gebe. Allerdings waren innerhalb der KSĆ nicht alle mit den Reformen einverstanden. Mit Blick auf die konservativen Kräfte im ZK der KSĆ betonte Alexander Dubček, dass die Führungsrolle der Partei nicht zur Diskussion stehe.

Alle Schritte der Parteiführung in der Tschechoslowakei wurden aus Moskau und aus den sozialistischen "Bruderstaaten" kritisch beobachtet. Auch wenn im Aktionsprogramm vom 5. April 1968 der Zusammenhalt der sozialistischen Staaten beschworen wurde, reklamierte die KSĆ für die Tschechoslowakei einen eigenen Weg. Die KP-Chefs in Moskau, Warschau und in Ostberlin betrachteten schon die Aufhebung der Pressezensur als ein Warnsignal. Sie befürchteten, dass antisozialistische Kräfte die Oberhand gewinnen könnten. Im Gegensatz zu den Staats- und Parteiführungen in den sozialistischen Bruderstaaten reagierten viele Menschen dort zustimmend auf die Veränderungen in der Tschechoslowakei.


Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Leonid Iljitsch Breschnew (Mitte), im Gespräch mit dem 1. Sekretär des ZK der polnischen KP, Wladislaw Gomulka (rechts), und dem Generalsekretär der SED Walter Ulbricht (links) (Foto um 1968).
Zum Anfang

Welche Forderungen stellten die Bürgerinnen und Bürger?

Während noch im Januar und Februar 1968 der Großteil der Bevölkerung von der KSČ keine großen Veränderungen erwartete, änderte sich die Situation im März schlagartig. In der Presse, aber auch in Radio und Fernsehen, wurden kritische Fragen gestellt, die bisher tabu waren. Vor allem in den Printmedien erschienen Artikel, in denen die überkommenen und verschleierten Strukturen und Fehlentwicklungen in der KSĆ schonungslos offengelegt wurden. Schließlich organsierten Bürgerinnen und Bürger sich in neuen, von der Partei unabhängigen Gruppierungen.

Es entstand eine kritische Öffentlichkeit; die Kommunikation in der Gesellschaft verlief nicht mehr einseitig von oben nach unten, sondern auch von unten nach oben. So mussten sich Politiker jetzt bei Veranstaltungen den kritischen Fragen der Bürger stellen.

Zum Anfang
Als klar war, dass auch die Parteispitze zu Neuerungen bereit war, organisierten die Basisorganisationen der KSĆ Konferenzen, in denen die Fehler der Vergangenheit, wie etwa die politischen Schauprozesse, hinterfragt wurden. Außerdem wurden Forderungen nach Demokratisierung in der Partei und in der Gesellschaft laut.

Interessant ist, dass der Anstoß zu Veränderungen nicht gegen die Partei gerichtet war, sondern sich aus der KSĆ selbst entwickelte. Selbst die Verantwortlichen in den Medien gehörten der Partei an. In den öffentlichen Diskussionen wurden immer weitergehende Forderungen laut: nach demokratischen Grundrechten, nach Menschen- und Bürgerrechten wie Meinungs- und Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit oder auch Reisefreiheit.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Der am 30. März 1968 neu gewählte tschechoslowakische Präsident Ludvik Svoboda (links) mit Alexander Dubček (rechts) auf der Prager Burg.
Zum Anfang
Es entwickelte sich im März ein neues Phänomen in der Tschechoslowakei. Bekannte Reformer aus der Partei und reformorientierte Intellektuelle traten bei zahlreichen Massenveranstaltungen öffentlich auf und diskutierten mit Bürgerinnen und Bürgern. Allerdings konnten sie oftmals den teils sehr kritischen Fragen nicht ausweichen. Die Bevölkerung nahm diese Form der Kommunikation mit großem Interesse auf.

Man diskutierte über die politischen Prozesse der 1950er-Jahre, über die Rehabilitierung der Opfer, aber auch über die Zukunftsperspektiven des Landes. Eine der bekanntesten Massenveranstaltungen fand am 20. März in Prag in einem Kongresszentrum mit mehr als 15.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Sie dauerte sieben Stunden und wurde live im Fernsehen übertragen. Am Ende verabschiedete man eine Resolution, in der ein „wirklich aufgeklärter, humaner und demokratischer Sozialismus“ gefordert wurde. Freiheitsrechte sollten garantiert und eine Gewaltenteilung eingeführt werden.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Ota Šik, der Schöpfer der Wirtschaftsreformen des Prager Frühlings
Zum Anfang
Die führende Zeitung des Landes war die Parteizeitung „Rudé právo“. Daneben waren die Zeitungen des Gewerkschaftsverbandes, der KP-Jugendorganisation und der Landwirtschaftsgenossenschaften bedeutend.

In atemberaubendem Tempo verwandelten sich diese Printmedien von „Transmissionsriemen der Partei“ zu kritischen Medien, die investigativ recherchierten und Moral zum Maßstab ihres Handelns erhoben. Die Auflagenzahlen stiegen, weil die Menschen Neuigkeiten erfuhren und nicht mit Verlautbarungen der KSĆ abgespeist wurden. Ähnliches galt auch für Rundfunk und Fernsehen.

Neben den Medien spielten im Jahr 1968 Meinungsumfragen eine wichtige Rolle. Sie zeichneten ein realistisches Meinungsbild; so war erkennbar, wie die Bevölkerung auf die Veränderungsprozesse reagierte. Das staatliche „Institut für die Erforschung der öffentlichen Meinung“ war 1965 eingerichtet worden. Es arbeitete auf internationaler Ebene mit bedeutenden Einrichtungen, z. B. in der Bundesrepublik und den USA, zusammen.

Die Meinungsumfragen bestätigen eine hohe Zustimmung der Bevölkerung zu den eingeleiteten Reformen und zu Alexander Dubček. Da vom Amtsantritt Dubčeks bis zur Niederschlagung der Reformbewegung in der Tschechoslowakei keine Wahlen stattfanden, belegen allein die Ergebnisse der Demoskopie die Zustimmung zur Reformpolitik.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Alexander Dubček in einer Fernsehansprache vom 18. Juli 1968.
Zum Anfang
Die Nichtkommunisten hielten sich zunächst in der Öffentlichkeit zurück, weil sie seit dem revolutionären Umsturz im Februar 1948 immer wieder unter Repressionen zu leiden hatten. Mitte März bildeten sich informell erste unabhängige Gruppierungen. Dazu gehörte eine Organisation von Studierenden und eine von unabhängigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.

Großen Zulauf erhielt der „Klub 231“ oder „K231“. Der Name bezog sich auf das Gesetz Nr. 231 „Zum Schutz der demokratischen Volksrepublik“ aus dem Jahr 1948. Es diente u. a. als Grundlage für die Prozesse der 1950er-Jahre. K231 war eine Vereinigung von Opfern politischer Unterdrückung und hatte im August 1968 schon 60.000 Mitglieder. Sie forderten eine völlige Rehabilitierung aller Opfer politischer Prozesse.

Der Klub Engagierter Parteiloser (KAN) verfolgte das Ziel eines demokratischen Sozialismus. Die Mitglieder von KAN waren aber misstrauisch der KSĆ gegenüber und forderten die unmittelbare Einführung der Versammlungs- und Koalitionsfreiheit. Erst wenn dieser Schritt vollzogen sei, könne man von einem demokratischen Wettbewerb der Parteien auf dem Weg zum Sozialismus sprechen.

Besonders heikel für die KSĆ war die Forderung von Sozialdemokraten, ihre Partei wieder zuzulassen und damit die Zwangsvereinigung von 1948 rückgängig zu machen. Die KSĆ befürchtete einerseits, dass sie dann ernsthafte Konkurrenz einer sozialistischen Partei bekäme, die ohne eine schmutzige Vergangenheit dastünde; andererseits musste sie auch die sozialistischen "Bruderstaaten" fürchten, die darin einen Akt von Konterrevolution sahen.

Das Thema Geschlechtergerechtigkeit spielte in den Diskussionen über Reformen keine wirkliche Rolle. Offiziell galt die Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Der „Tschechoslowakische Verband der Frauen“ nutzte die neuen Freiheiten und stellte die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Damit wird aber nur deutlich, dass die Gleichheit der Geschlechter nur eine offizielle Floskel war.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Eine junge Frau verfolgt die Nachrichten in Prag 1968.


Zum Anfang
Mit dem Aktionsprogramm vom 5. April hatte die KSĆ Erwartungshaltungen geweckt. Zudem entwickelte sich eine politische Öffentlichkeit, die zum Teil noch weiter gehende Forderungen aufstellte. Dass Sozialdemokraten ihre Partei neu gründen wollten, war eine Forderung, die man nicht vorhergesehen hatte – oder nicht sehen wollte. Eine Opposition wollte die KSĆ jedoch nicht zulassen, weil sie der Ansicht war, dass die Regierung ohnehin die Kritik aus der Bevölkerung aufnehme. Eine Opposition sei somit nicht nötig.

Die Forderung nach einer Opposition wurde auch in weiteren gesellschaftlichen Kreisen erhoben, so z. B. im April in der Zeitschrift „Literární Listy“ von Václav Havel. Er meinte, dass nur eine Opposition garantiere, dass der Regierung ein echtes Korrektiv gegenüberstehe. Havel war Schriftsteller und einer der Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen. Nach der Revolution 1989 wurde er Staatspräsident der Tschechoslowakei.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Der tschechische Schriftsteller Vaclav Havel, der Schriftsteller Jan Benes und Benes' Anwalt Jaroslav Tous (von links nach rechts) auf dem Wenzelsplatz in Prag am 23. März 1968. Benes wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren vom kommunistischen Regime ins Gefängnis gesteckt, u. a. weil er in einer Exilzeitschrift Texte publiziert hatte. 
Zum Anfang
















Was ist auf dem Bild zu sehen?
 
Der tschechische Dramatiker Vaclav Havel, der Schriftsteller Jan Benes und Benes' Anwalt Jaroslav Tous (von links nach rechts) auf dem Wenzelsplatz in Prag am 23. März 1968. Benes wurde in den 1950er- und 1960er-Jahren vom kommunistischen Regime ins Gefängnis gesteckt, u. a. weil er in einer Exilzeitschrift Texte publiziert hatte.
Zum Anfang

Mit welchen Konsequenzen mussten die Beteiligten rechnen?

Der Druck aus Moskau und aus den anderen sozialistischen "Bruderstaaten" erhöhte sich in dem Maße, in dem die Forderungen nach mehr Demokratie in der Tschechoslowakei zunahmen. Um einer befürchteten Konterrevolution zuvorzukommen, marschierten schließlich Truppen des Warschauer Paktes am 21. August 1968 in die Tschechoslowakei ein und besetzten das Land innerhalb kurzer Zeit. Der zumeist gewaltlose Widerstand der Bevölkerung gegen die Besetzung war groß, konnte aber nicht verhindern, dass nahezu alle Errungenschaften, die das Land seit Jahresbeginn verändert hatten, nach und nach zurückgenommen wurden.
Zum Anfang
Die Staats- und Parteiführungen der UdSSR und der anderen sozialistischen Staaten beobachteten die Entwicklung in der ČSSR genau. Nachdem bei den Feiern zum 1. Mai in Prag Transparente gezeigt wurden, die sich zum Teil gegen die Vorherrschaft der Sowjetunion wandten, wurde eine vierköpfige Delegation der KSĆ unter Führung von Alexander Dubček zu einem Treffen am 4./5. Mai nach Moskau geladen. Die sowjetische Führungsriege unter Breschnew verlangte von Dubček eine Bekämpfung der antisozialistischen Elemente. Da die Delegation nach ihrer Rückkehr weder die restliche Führung der KSĆ noch die Bevölkerung über die Ergebnisse des Treffens informierte, wurde der Ernst der Lage nicht klar. Deshalb irritierte das Verhalten Dubčeks, der nun begann, die zugesagten Veränderungen hinauszuzögern und Entscheidungen auf den 14. Parteitag, der für August terminiert war, zu verschieben.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Portaitbild von Leonid Iljitsch Breschnew, Generalsekretär der KPdSU.
Zum Anfang
Um die Reformkräfte in der Partei zu unterstützen, beschlossen hochrangige Naturwissenschaftler, ein Manifest zu veröffentlichen. Sie gewannen als Autor den Schriftsteller Ludvík Vaculík, der wegen seiner kritischen Äußerungen 1967 aus der KSĆ ausgeschlossen worden war. Das Manifest erschien – unterzeichnet von mehr als 60 bekannten Persönlichkeiten – am 12. Juni in vier vielgelesenen Zeitungen und sorgte für heftige Diskussionen, weil es einerseits die Rolle der Partei in den letzten 20 Jahren kritisch analysierte, und andererseits die Reformen würdigte, aber die Bürger und Bürgerinnen zu noch mehr aktiver Unterstützung aufrief: Sie sollten die Politik selbst in die Hand nehmen und „Bürgerausschüsse“ bilden.

In kürzester Zeit meldeten sich 120.000 Unterstützerinnen und Unterstützer des Manifests. Zugleich sahen die Reformgegner im Land in dem Manifest ein Dokument der Konterrevolution. Leonid Breschnew rief noch am Tag des Erscheinens Alexander Dubček an und brachte seine Entrüstung über das Manifest zum Ausdruck.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Ein Schreibmaschinendurchschlag des Manifests der 2000 Worte.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft HL 180
Zum Anfang
Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Am 4. Juli traf dann bei der KSČ ein Brief von der Führung der KPdSU ein, der mit Blick auf das „Manifest der 2000 Worte“ vor der Konterrevolution warnte. Die KSČ wurde aufgefordert, hart durchzugreifen und sämtliche Medien wieder unter ihre Kontrolle zu bringen.

Nachdem sich die Parteichefs der UdSSR und vier weiterer "Bruderstaaten" (ohne die ČSSR) in Warschau am 14./15. Juli getroffen hatten, ging ein weiterer dringlicher Brief in Prag ein, der von allen Teilnehmern des Treffens in Warschau unterschrieben war. Die Führung der KSČ wies in einem offenen Brief den Vorwurf zurück, in der ČSSR sei eine Konterrevolution im Gange. Anschließend kam es zu einem bilateralen Treffen zwischen den Parteiführungen aus der Sowjetunion und der Tschechoslowakei, das in Čierna nad Tisou vom 21.Juli bis 1. August stattfand. Die Delegation der KSČ verpflichtete sich dabei, die Kontrolle über die Medien wiederherzustellen. Froh darüber, den Bruch mit der Sowjetunion vermieden zu haben, kehrte die Delegation nach Prag zurück. Sie wusste nicht, dass die Invasion der "Bruderstaaten" bereits beschlossene Sache war.

Die Invasion von Truppen des Warschauer Paktes erfolgte in der Nacht vom 20. auf den 21. August. Im Rahmen der „Operation Donau“ besetzten sowjetische, polnische, bulgarische und ungarische Truppen die gesamte Tschechoslowakei.

Als Alexander Dubček vom Einmarsch erfuhr, war er völlig niedergeschlagen und erklärte: „Ich, der ich mein Leben der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion gewidmet habe – mir tun sie so etwas an, das ist die Tragödie meines Lebens!“

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Jugendliche demonstrieren auf einen sowjetischen Panzer auf dem Wenzelsplatz in Prag und halten ein Schild in die Höhe, auf dem steht „Nur autorisiertes Personal – Zutritt strengstens verboten“
Zum Anfang
Militärischen Widerstand gegen die Invasion gab es nicht. Die Bevölkerung, die über Radio und Fernsehen von dem Einmarsch erfuhr, akzeptierte die Besetzung nicht widerstandslos. Es folgten Demonstrationen und viele Menschen leisteten gewaltfrei Widerstand, z. B. durch Sitzblockaden, mit denen die Panzer aufgehalten werden sollten. Menschen versuchten die Soldaten der Invasionstruppen in Gespräche zu verwickeln und von ihrer Sache zu überzeugen. Andere verdrehten Straßenschilder oder benannten Straßen in „Dubček-Straße“ um, um den Eindringlingen die Orientierung zu erschweren. Wieder andere verteilten Flugblätter, mit denen sie um Hilfe aus dem Westen baten.

Vielfach sah man an Hauswänden die Aufforderung gepinselt „Iwan go home!“ Andere Grafittis verglichen die Invasoren mit den Deutschen, die 1939 das Land okkupiert hatten.

Nachdem die Fernsehsender und der staatliche Rundfunk besetzt waren, sendete ein „freier Rundfunk“ noch eine Zeit lang von verschiedenen Stationen im Land auf unterschiedlichen Frequenzen, um die Bevölkerung weiter zu informieren. Sabotageakte begleiteten die Aktionen, z. B. leiteten Eisenbahner Züge der Invasoren absichtlich in falsche Richtungen. Der gewaltlose Widerstand war jedoch riskant: 108 Menschen wurden bis Ende 1968 getötet, rund 500 Menschen schwer und Hunderte leicht verletzt.

Die Verzweiflung der Menschen, vor allem der Jugendlichen, zeigte sich in der Aktion eines Einzelnen exemplarisch: Der 21-jährige Student Jan Palach zündete sich am 16. Januar 1969 auf dem Prager Wenzelsplatz selbst an aus Protest gegen die Okkupation seines Landes. Als er drei Tage später starb, begaben sich ca. 200.000 Menschen zum Wenzelsplatz; viele legten dort Kränze für ihn nieder.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Ein Mann übermalt in Liberec ein Hinweisschild mit weißer Farbe um die Invasionstruppen zu behindern (Foto, 21. August 1968).
Zum Anfang
In der Öffentlichkeit der westlichen Staaten hatte man die Reformansätze in der Tschechoslowakei aufmerksam verfolgt. Nach dem Einmarsch war das Entsetzen im Westen groß. Während viele Menschen in der Tschechoslowakei auf Unterstützung der Nato hofften, hielt sich der Westen jedoch zurück, um keine Eskalation des Konfliktes zu riskieren.

Auch in der DDR verurteilten viele Menschen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes. Aus Stasi-Unterlagen weiß man, dass allein in Ostberlin an 389 Stellen 3528 Flugblätter verbreitet und an 212 Stellen 272 Graffitis gesprüht wurden, die sich gegen die Invasion richteten. Solche Unternehmungen waren sehr gefährlich, 63% der Urheber dieser Aktionen wurden gefasst.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Flugblatt von Bettina Wegner als Protest gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings.
Quelle: Bundesarchiv: BArch, MfS, HA IX, Nr. 25453, Bl. 194
Zum Anfang
Der Invasion war ein Hilferuf von konservativen Kräften innerhalb der KSČ an die sowjetische Parteiführung vorausgegangen. Dieser Hilferuf war Teil eines Umsturzplanes. Die konservative Gruppe wollte zunächst Dubček im ZK entmachten und eine prosowjetische Führungsriege einsetzen.

Dieser Plan scheiterte jedoch. Sowjetische Soldaten hatten Alexander Dubček und vier weitere Reformer aus der Führungsriege der KSČ verhaftet und in die Sowjetunion gebracht. Auf Vorschlag von Präsident Svoboda willigte die sowjetische Führung ein, Gespräche über das weitere Vorgehen zusammen mit den verhafteten Reformern um Alexander Dubček in Moskau zu führen.

Als Ergebnis dieser Gespräche wurden die tschechoslowakischen Politiker gezwungen, das „Moskauer Protokoll“ zu unterschreiben. Darin war festgehalten, dass in der Folgezeit alle Reformen rückgängig gemacht werden sollten. Weil die Bevölkerung weiter geschlossen hinter Dubček stand, hoffte man durch die Vereinbarung mit ihm ein Blutvergießen verhindern zu können. Die Alternative wäre die gewaltsame Einsetzung einer moskautreuen Regierung gewesen.

Nachdem Dubček die errungenen Freiheiten Schritt für Schritt wieder aufgehoben hatte, trat er am 17. April 1969 zurück. Sein Nachfolger wurde Gustáv Husák, der die Tschechoslowakei mit harter Hand regierte.

Viele Reformer wurden mit Berufsverboten belegt und mussten sich mit Hilfsarbeiterjobs durchschlagen. Die Partei wurde von allen reformerischen Kräften gesäubert, was bedeutete, dass ein Viertel aller Parteimitglieder ausgeschlossen wurde. In den Massenmedien, in der Armee, im Justizapparat, in den Hochschulen und in wissenschaftlichen Einrichtungen wurden die Personen, die zu den Reformern gezählt wurden, nach und nach entfernt. Zehntausende Menschen flohen aus der Tschechoslowakei in den Westen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Alexander Dubček (links) mit Staatspräsident Ludvik Svoboda (Mitte) nach der Rückkehr aus Moskau in Prag (Foto, August 1968).
Zum Anfang
Zum Anfang
Schließen
Nachdem die Errungenschaften des Prager Frühlings wieder rückgängig gemacht worden waren, machte sich im Land eine tiefgehende Resignation breit, das gesamte öffentliche Leben wurde kontrolliert. Das wurde von der Staats- und Parteiführung als „Normalisierung“ bezeichnet. Aber den Menschen blieb die Erinnerung, dass Veränderungen des Systems möglich sind.

Im Zuge der Entspannungspolitik in den 1970er-Jahren kamen die verfeindeten Blöcke miteinander ins Gespräch. An der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1973 in Helsinki stattfand, nahmen neben den USA, Kanada und der Sowjetunion fast alle europäischen Staaten teil, auch die Tschechoslowakei.

Am Ende verständigte man sich auf die Schlussakte von Helsinki, die ein geregeltes Miteinander der Staaten aus Ost und West ermöglichen sollte. Darin wurde auch festgehalten, dass die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Überzeugungsfreiheit in den beteiligten Staaten gelten solle. Darauf beriefen sich wenig später in den Staaten des Ostblocks die regierungskritischen Gruppen.

In der Tschechoslowakei bildete sich 1976 eine Gruppe von Oppositionellen, darunter auch Václav Havel, die auf Verstöße gegen die Menschenrechte hinweisen wollten. Sie beriefen sich auf die Schlussakte von Helsinki. Die Gruppe veröffentlichte am 1. Januar 1977 die Charta 77. Darin stellte sie die Rechte, die in der KSZE-Erklärung und z. T. auch in Gesetzen ihres Landes gewährt wurden, der Realität gegenüber. Den Text druckten wenige Tage später große europäische Zeitungen ab. Die Mitglieder der Gruppe wurden drangsaliert, teilweise auch verhaftet, andere wurden ausgewiesen. Bis zur "Samtenen Revolution 1989" war die Charta 77 die treibende oppositionelle Kraft im Land, die sich für Menschen- und Bürgerrechte einsetzte.

Als 1989 in Polen, Ungarn und in der DDR die Menschen gegen die kommunistische Herrschaft aufbegehrten, schien es in der Tschechoslowakei zunächst ruhig zu bleiben. Am 17. November entwickelte sich aus einer Gedenkveranstaltung für einen von den Nationalsozialisten 1939 ermordeten tschechischen Widerstandskämpfer eine Demonstration gegen die Regierung. Die Polizei schlug brutal zu und verletzte über 600 Menschen. Dies führte zu einer Solidarisierung der Bevölkerung, die sich jetzt entschlossen gegen die Partei- und Staatsführung wandte. Nach einem Generalstreik, an dem sich 80% der Bevölkerung beteiligten, schwand die Macht der KSČ rasch und schon am 29. Dezember wurde Václav Havel zum neuen Staatspräsidenten gewählt.

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Ein Video der Sächsischen Zeitung: Der Zeitzeuge Günter Kern erzählt vom Prager Frühling

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
Video: Prager Frühling | Historische Ereignisse mit Mirko Drotschmann aus der Reihe „MDR Zeitreise 2go“
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang

Historische EInführung

Zum Anfang
Das Jahr 1968 war weltweit von Protesten geprägt, deren Akteure sich teilweise für ähnliche Ziele einsetzten, aber in jedem Land unterschiedliche Ursachen und Auslöser hatten. In Polen, der Tschechoslowakei und in der DDR forderten Menschen mehr Freiheit – wobei das Ausmaß der Proteste sich in diesen Ländern erheblich unterschied.

In den USA engagierten sich Weiße und Farbige im Rahmen der Bürgerrechtsbewegung für gleiche Rechte für alle Bürger. Linke Studierende in den USA, in Großbritannien, Frankreich, Italien und in der Bundesrepublik forderten unter anderem ein Ende des Vietnamkrieges und den Rückzug der US-Soldaten aus dem Land. Die Proteste der Studierenden in der Bundesrepublik richteten sich auch gegen überkommene Strukturen an den Hochschulen und in der gesamten Gesellschaft, aber ebenso gegen die geplanten Notstandsgesetze. Auch in Japan protestierten Studierende gegen das autoritäre Bildungs- und Erziehungssystem.

Zum Verständnis der Proteste in der Bundesrepublik ist es wichtig, die internationalen Verbindungen der Protestierenden zu kennen. Die Generation der Studierenden im Jahr 1968 setzte sich durchweg aus jungen Menschen zusammen, die nach der NS-Diktatur und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aufgewachsen war. Die Eltern und Großeltern waren tief geprägt von autoritären Strukturen, von Regeln und Gewohnheiten, die sie für notwendig hielten und befolgten. Die Studierenden stellten diese Regeln in Frage.

Zum Anfang

Was waren Ursachen und Auslöser der Proteste 1968?

Unter Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) etablierte sich die neue demokratische Grundordnung in der Bundesrepublik. Nach ersten Schwierigkeiten setzte in den 1950er-Jahren ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum ein, das den Abschluss des Wiederaufbaus bis zum Ende des Jahrzehnts ermöglichte. Die Bundesbürgerinnen und -bürger genossen die angenehmen Seiten der Konsumgesellschaft: ein Auto, ein Urlaub in Italien oder ein Eigenheim war jetzt für viele erschwinglich.

1955 wurde der junge Staat weitgehend wieder souverän, trat in die NATO ein und schuf sich mit der Bundeswehr eine neue Armee. Adenauer hatte zielstrebig die Bindung an den Westen betrieben. Der erste Schritt dazu war die Gründung der Montanunion, aus der dann 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hervorging.

1963 trat Adenauer zurück. Ihm folgte für kurze Zeit Ludwig Erhard als Kanzler. Nach Streitigkeiten zwischen CDU/CSU und der FDP zerbrach die Regierung 1966; CDU/CSU und die SPD bildeten angesichts der ersten Wirtschaftskrise in der Bundesrepublik eine Große Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), die im Bundestag über eine überwältigende Mehrheit verfügte. Einzig die FDP bildete mit 49 von 496 Abgeordneten die Opposition.

Zum Anfang
In der jungen Bundesrepublik war die Politik von Bundeskanzler Adenauer und seinen Regierungen nicht unumstritten. So protestierten Pazifist*innen, Intellektuelle, Kirchenvertreter*innen, Gewerkschafter*innen und Sozialdemokrat*innen gegen die Wiederbewaffnung, die Adenauer schon früh forderte. Viele Menschen befürchteten, dass die Westintegration und die Aufstellung der Bundeswehr einer Wiedervereinigung im Wege stünden. Es kam zu ersten Großdemonstrationen im Land.

1962 führte die "Spiegel-Affäre" erneut zu spontanen Protesten, vor allem von Studierenden und Gewerkschaften. Der damalige Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß warf dem "SPIEGEL" vor, in einem Artikel über ein NATO-Manöver geheime Unterlagen veröffentlicht zu haben. Als die Redaktionsräume von der Polizei besetzt und führende Mitarbeiter des "SPIEGEL" verhaftet wurden, protestierten unter anderem Journalistinnen und Journalisten dagegen. Die Protestierenden brachten ihre Befürchtung zum Ausdruck, die Meinungs- und Pressefreiheit sei in Gefahr. Linke und liberale Medien wie der „Stern“ oder die „DIE ZEIT“ verurteilten ebenfalls die aus ihrer Sicht überzogenen Maßnahmen des Staates gegen den "SPIEGEL".

In den 1960er-Jahren erhielten die Proteste immer mehr Zulauf. Sichtbar wurde dies unter anderem in den sogenannten Ostermärschen, die sich gegen die Aufrüstung mit Atomwaffen wandten. 1960 demonstrierten etwa 1.000 Menschen an unterschiedlichen Orten gegen die Gefahr eines Atomkrieges. 1964 nahmen bereits 100.000 Menschen teil, 1967 waren es 150.000.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Studierende demonstrieren am 02.11.1962 in München gegen die jüngsten Polizei-Maßnahmen in der  „Spiegel“-Redaktion (Foto, 2. November 1962).
Zum Anfang
„Gammler“ – so wurden ab Mitte der 1960er-Jahre in abwertender Form junge Leute bezeichnet, die sich den Zwängen der Konsumgesellschaft widersetzten. Sie waren meist männlich, trugen lange Haare, waren mit Parkas und Jeans bekleidet und schlugen sich mit Betteleien durch. Viele von ihnen rauchten Haschisch, eine damals noch wenig bekannte Droge. Ihr Erscheinungsbild und ihre Lebensauffassung standen im kompletten Gegensatz zu den bürgerlichen Normen. In den Printmedien wurde vielfach über sie berichtet.

Viele junge Menschen ließen sich von der "Gammler-Kultur" inspirieren und trugen lange Haare und Parkas, um sich von der Generation der Eltern zu unterscheiden. Viele Eltern fühlten sich provoziert, wenn ihre Töchter sich kurze Miniröcke kauften.

Ein weiterer Grund für die Konflikte zwischen den Generationen war die Musik. Jugendliche begeisterten sich für Rock- und Beat-Rhythmen, z. B. für die Beatles oder die Rolling Stones. Vor allem die letztere Gruppe stand mit ihrem Sound für die Ablehnung des Geschmacks der Erwachsenengeneration. Ausgelassen zu der Musik zu tanzen verstanden viele Jugendliche als einen Ausdruck von Freiheit. Bewusst wandte sich die junge Generation von den strengen Konventionen, die ihre Eltern befolgten, ab.

Viele junge Menschen waren unzufrieden darüber, dass ihre Eltern Fragen nach der unmittelbaren Vergangenheit auswichen oder gar Sympathien für das NS-Regime äußerten nach dem Muster: „Früher herrschte noch Ordnung!“

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?   
Zwei "Gammler" in München (Foto, 1969).
Zum Anfang
Schließen
"Gammler" an der Gedächtniskirche
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
Schon seit Beginn der 1960er-Jahre nahm der Anteil der Jugendlichen zu, die ein Studium an einer Hochschule aufnahmen. Diese jungen Menschen setzten sich kritisch mit den Verhältnissen an den Universitäten und im Lande auseinander.

Eine wichtige politische Organisation an den Universitäten war der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der 1946 als Hochschulverband der SPD gegründet worden war.

Nachdem sich die SPD mit dem Godesberger Programm von einer sozialistischen Arbeiterpartei zu einer Volkspartei gewandelt hatte, gab es Auseinandersetzungen zwischen der SPD und dem SDS. Schließlich schloss die SPD den SDS aus, weil dessen Forderungen teilweise mit dem SPD-Programm unvereinbar waren. Der SDS vertrat eher links-radikale Positionen und berief sich auf Theoretiker aus der Zwischenkriegszeit wie etwa Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Georg Lukács und andere. Die Gruppierung verstand sich jetzt als Teil der „neuen Linken“, die im Gegensatz zur SPD als „alte Linke“ stand. Im Unterschied zur bisherigen Vorstellung, dass die Arbeiter Träger des revolutionären Wandels seien, sah die neue Linke neben dem akademischen Nachwuchs und den Studierenden auch soziale Randgruppen als revolutionär Handelnde an.

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Kurzporträt des WDR von 1967 über Rudi Dutschke

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Angesichts der Übermacht der Großen Koalition wurde die Forderung nach einer außerparlamentarischen Opposition lauter. Besonders heftige Diskussionen entbrannten in der Gesellschaft angesichts der Pläne der Regierung für die sogenannten Notstandsgesetze. Sie sollten den Staatsorganen Maßnahmen zur Abwehr innerer und äußerer Notlagen zur Verfügung stellen.

Die Notstandsgesetze wurden von vielen politisch engagierten Bürgern, vor allem aber von Studierenden heftig bekämpft, weil sie darin Eingriffe in ihre Bürgerrechte sahen. Die Kritikerinnen und Kritiker fanden in der sogenannten Außerparlamentarischen Opposition (APO) zusammen. Sie befürchteten, dass aufgrund der Notstandsgesetze die deutsche Demokratie autoritäre Züge annehmen würde. Den Kern der APO bildete der SDS, es beteiligten sich aber auch andere Hochschulorganisationen, sowie linke Intellektuelle und Künstler.

Innerhalb der Protestbewegung gab es kein einheitliches Programm, dem sich alle verpflichtet fühlten; es handelte sich um eine nicht organisierte Bewegung mit vielen verschiedenen Vorstellungen. Die APO fand spontan zu bestimmten Anlässen zusammen, z. B. bei Protestaktionen gegen den Vietnamkrieg oder die Notstandsgesetze.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?   
In Bonn versammelten sich Tausende von Menschen, um zu demonstrieren.
Zum Anfang
Schließen
Als der Rektor der Freien Universität (FU) Berlin eine von der Studentenschaft für den 7. Mai 1965 geplante Veranstaltung mit dem linksliberalen Journalisten Erich Kuby als Redner verbot, betrachtete dies der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) als einen Eingriff in die Meinungsfreiheit. Die Studentenschaft forderte eine Rücknahme des Verbots und startete wenige Tage später eine Plakataktion, um ihre Meinung zu dem Vorfall darzulegen. Die Auseinandersetzungen gingen weiter und mündeten in der Forderung nach der Beteiligung der Studierenden an den Selbstverwaltungsorganen der FU. Am 22. Juni 1966 veranstalteten etwa 3.000 Studierende vor dem Tagungsort des Akademischen Senates als Protest ein Sit-in.

Parallel zu den Protesten in Berlin koordinierte der Bundesvorstand des SDS in Frankfurt Aktionen gegen die Notstandsgesetze. Zu einem weiteren Schwerpunkt der studentischen Proteste entwickelte sich der Protest gegen den Vietnamkrieg. Ein Arbeitskreis des SDS in West-Berlin beschrieb diesen Krieg als ein Musterbeispiel von Imperialismus und Kolonialismus. Am 5. Februar 1966 gab es eine große Demonstration von Studierenden in Berlin gegen den Vietnamkrieg; nach dem offiziellen Ende zogen einige Protestierende zum Amerikahaus und entfernten die US-Flagge vom Dach des Gebäudes.

Als Anfang Juni 1967 der Schah von Persien, der ein autoritäres Regime im Iran etabliert hatte, die Bundesrepublik und West-Berlin besuchte, gab es zahlreiche Demonstrationen. Auf der Demonstration in Berlin am 2. Juni 1967 wurde der friedlich demonstrierende Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen. Nach dieser Tat – und erst recht nach dem baldigen Freispruch des Polizisten – nahmen die Auseinandersetzungen zwischen Demonstrierenden und der Polizei an Schärfe zu – und es kam zu weiteren Demonstrationen, auch in anderen Städten der Bundesrepublik.

Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Video der Deutschen Welle über den Mord an Benno Ohnesorg

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Schließen
1967 - Der Tod des Benno Ohnesorg
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Im Februar 1968 veranstalte der SDS in West-Berlin eine Vietnamkonferenz (mit Teilnehmer*innen u. a. aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Italien). Am Ende des Kongresses fand in Berlin eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg mit 15.000 Teilnehmern statt.

Vor allem die "Bild"-Zeitung hetzte immer wieder gegen die demonstrierenden Studierenden, insbesondere aber gegen Rudi Dutschke: „Stoppt den Terror der Jung-Roten jetzt!“ oder „Stoppt den roten Rudi jetzt!“ Die Empörung aufseiten der Protestbewegung war groß.

Völlig überraschend wurde Rudi Dutschke am Gründonnerstag, dem 11. April 1968, in Berlin auf offener Straße von dem Hilfsarbeiter Josef Bachmann niedergeschossen. Er überlebte den Anschlag schwer verletzt. Daraufhin erreichte über die Ostertage die Protestbewegung ihren Höhe- und Wendepunkt. Bei den Protesten gab es Parolen wie „Haut dem Springer auf die Finger!“ und „BILD hat mitgeschossen“. Es kam zu Straßenschlachten zwischen Protestierenden und der Polizei. Am Ostersonntag demonstrierten in über zwanzig Städten rund 50.000 Studierende. In München fanden ein Reporter und ein Student unter ungeklärten Umständen den Tod. In Berlin griffen gewaltbereite Teilnehmer*innen das Springerhochhaus und den Fuhrpark des Verlages mit Molotow-Cocktails an.

Um die Notstandsgesetze zu verhindern, protestierten über 40.000 Menschen am 11. Mai 1968 mit einem Sternmarsch auf Bonn (damals Sitz der Bundesregierung); der Protest hatte keinen Erfolg, denn am 30. Mai verabschiedete der Bundestag die Gesetze. Danach begann die APO auseinanderzufallen. Auch der SDS zerfiel; er löste sich am 21. März 1970 selbst auf.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Vietnamtribunal des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes in West-Berlin.
Zum Anfang
Schließen
Audio aus der Reihe „Kalenderblatt“ des MDR zum 11.04.1968 - Attentat auf Rudi Dutschke
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Es gab noch einen letzten Höhepunkt der Eskalation der Gewalt. In Berlin fand eine Demonstration anlässlich des Prozesses gegen den Rechtsanwalt Horst Mahler statt. Mahler hatte an den Aktionen gegen das Springer-Hochhaus über Ostern teilgenommen. Circa 1.200 Menschen demonstrierten am 4. November 1968 vor dem Gerichtsgebäude in Berlin. Ihnen standen etwa 400 Polizisten gegenüber. Als Protestierende die Polizist*innen mit Ziegelsteinen bewarfen, artete die Konfrontation zu einer regelrechten Schlacht aus. Eine Reiterstaffel der Polizei musste die Fronten trennen. Die Bilanz der „Schlacht“: 130 verletzten Polizist*innen standen 20 verletzte Demonstrant*innen gegenüber.

Aus provokativen Aktionen von Protestierenden war massive Gewalt geworden. Diese Entwicklung beschleunigte den Zerfall der Protestbewegung.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Straßenschlacht vor dem Berliner Landgericht am Tegeler Weg zwischen Jugendlichen und der Polizei anlässlich der Verhandlung gegen den Rechtsanwalt Horst Mahler: die Polizei setzt Wasserwerfer gegen Steine werfende Demonstranten ein (Foto, 04.11.1968).
Zum Anfang

Die 68er Bewegung

Nach oben scrollen
Nach links scrollen
Nach rechts scrollen
Nach unten scrollen

Zur Startseite

Zum Anfang

Welche Forderungen wurden gestellt?

Ein geplanter Vortrag des Journalisten Erich Kuby auf einer von Studierenden organisierten Veranstaltung für Anfang Mai 1965 wurde vom Rektor der FU in Berlin verboten. Begründung: Kuby habe sich in der Vergangenheit abfällig über die FU geäußert. Dieses Verhalten des Rektors bedrohte nach Auffassung der Studierenden die Meinungsfreiheit auf dem Campus und löste heftige Gegenwehr aus.

Diesen Vorfall nahmen Studierende zum Anlass, Mitbestimmung in den Organen der universitären Selbstverwaltung zu fordern. Sie wandten sich gegen die autoritäre Einstellung vieler Professoren, die bereits in der NS-Zeit gelehrt hatten.

Die Proteste weiteten sich aus und entwickelten eine eigene Dynamik. Im Wesentlichen ging es dabei um folgende Forderungen:
  • Demokratisierung der Gesellschaft
  • Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau
  • Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung (freie Liebe etc.)
  • Auseinandersetzung mit der NS-Zeit
  • Keine Notstandsgesetze
  • Ende des Krieges in Vietnam
  • Meinungs- und Pressefreiheit

Zum Anfang
Bereits 1952 regelte das Betriebsverfassungsgesetz die Mitwirkung und Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Unternehmen. An den Universitäten galten vergleichbare Bestimmungen noch nicht. Schon 1962 forderte der SDS für die Hochschulen ebenfalls eine erweiterte Mitbestimmung in universitären Einrichtungen sowie eine demokratische Selbstverwaltung der Universitäten.

Mit Beginn der Protestbewegung im Jahr 1965 wurde die Forderung nach Partizipation auf der Grundlage neuer Hochschulgesetze an vielen Universitäten erhoben. Schon bald erhoben die Protestierenden auch Forderungen nach gesellschaftlichen Veränderungen, wobei einige Stimmen auch die bewusste Durchbrechung der Spielregeln einer demokratischen Gesellschaft zur Erreichung dieser Ziele forderten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Zwei Studenten der Universität Hamburg demonstrieren gegen die Ernennung des Universitätsrektors mit dem Spruchband „Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“; dahinter links der ehemalige Rektor Prof. Schöfer, rechts der neue Prof. Ehrlicher (Foto, 09.11.1967). – Die Nationalsozialisten verwendeten den Begriff „Tausendjähriges Reich“, um damit die Stabilität ihres Systems auszudrücken.
Zum Anfang
Die juristische und moralische Aufarbeitung der NS-Vergangenheit begann in der Bundesrepublik spät. Der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess im Jahr 1958 war der erste größere Strafprozess gegen NS-Täter vor einem deutschen Gericht. Er stieß auf ein großes Medieninteresse, ebenso wie der Eichmann-Prozess in Jerusalem (1961/1962) und der erste Auschwitzprozess in Frankfurt (1963-1965). Die Prozesse lenkten das öffentliche Interesse auf die bisher verdrängte Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Vergangenheit.

Die Protestbewegung an den Universitäten forderte angesichts zahlreicher Professoren an den Universitäten, die bereits während des Nationalsozialismus gelehrt hatten, eine Auseinandersetzung mit deren Vergangenheit. Auch die NS-Vergangenheit hochrangiger Politiker wie z. B. Bundeskanzler Kiesinger oder Bundespräsident Heinrich Lübke war in den Augen der Protestierenden ein Skandal. Sie forderten eine Entnazifizierung, sprich: den Rücktritt dieser Politiker.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Adolf Eichmann (NS-Kriegsverbrecher) bei seinem Prozess in Jerusalem.
Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
60 Jahre Eichmann-Prozess: Der Massenmörder im Glaskasten | DER SPIEGEL

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Als große Bedrohung der Demokratie sahen viele Menschen die Pläne der Regierung zur Einführung von Notstandsgesetzen. Die Befürworter*innen argumentierten etwa so: Die im Grundgesetz vorgeschriebenen Fristen bei der Gesetzgebung würden während eines Notstandes, bei dem eine schnelle Reaktion erforderlich wäre, zu einer faktischen Handlungsunfähigkeit von Bundestag und Bundesrat bei der Gesetzgebung führen. Deshalb müssten für diesen Fall besondere Regelungen gelten.

Die Kritiker*innen sahen in den geplanten Gesetzen Parallelen zur Weimarer Republik, die mithilfe von Notverordnungen von den Nationalsozialisten in eine Diktatur umgewandelt worden war. Eine mögliche Wiederholung dieser Entwicklung verstanden viele als Anstoß zum Engagement gegen die geplanten Gesetze. Vertreter der Studierenden, aus Wissenschaft, Kultur, Gewerkschaften und Kirchen kämpften gemeinsam gegen die Notstandsgesetze, weil sie ein mögliches Abdriften der Demokratie in eine Diktatur verhindern wollten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Im Zuge des Vorlesungsstreiks wegen der Notstandsgesetze besetzten Studierende das Seminargebäude und beschmierten dessen Wände mit Parolen.
Zum Anfang
Nachdem Vietnam 1954 von der Kolonialmacht Frankreich unabhängig geworden war, spaltete sich das Land in eine nördliche Hälfte mit einer kommunistischen Regierung, die von der Sowjetunion und China unterstützt wurde, und in eine südliche Hälfte, dessen Regierung von den USA Unterstützung erhielt. Beide Seiten beanspruchten die Herrschaft im ganzen Land und führten einen Bürgerkrieg gegeneinander.

Die USA, die auf keinen Fall zulassen wollten, dass das Land von Kommunisten regiert würde, griffen 1965 militärisch in den Konflikt ein. Immer mehr US-Soldaten – 1968 waren es über eine halbe Million Soldaten – kämpften gegen einen eigentlich unterlegenen Feind. Mit systematischen Flächenbombardements versuchten die US-Truppen, Nordvietnam in die Knie zu zwingen, was aber nicht gelang.

In den USA waren immer mehr Menschen der Ansicht, der Krieg sei moralisch nicht zu rechtfertigen und auch nicht zu gewinnen; sie forderten den Rückzug der Truppen. Sie hielten die Art der Kriegführung für verwerflich, weil sie vor allem die Zivilbevölkerung traf.

Die Proteste gegen den Vietnamkrieg wurden vor allem von Studierenden in den USA unterstützt, aber genauso von protestierenden jungen Menschen in Großbritannien, Frankreich oder der Bundesrepublik. Als heuchlerisch empfanden es viele Menschen, dass die westlichen Staaten gegen die autoritären Regierungen des Ostblocks wetterten, andererseits die USA aber in Südvietnam ein autoritäres Regime unterstützten. Bei den Protesten der Studierenden in der Bundesrepublik war der Kampf gegen den Vietnamkrieg stets ein wichtiges Thema.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Demonstrationszug auf dem Kurfürstendamm.
Zum Anfang
Es gab 1967/1968 linke und liberale Medien, die Verständnis für die Forderungen der Protestbewegung zeigten. In der Kritik an den Notstandsgesetzen und am Vietnamkrieg waren diese Medien mit den Protestierenden weitgehend einer Meinung.

Als begabter Redner trat Rudi Dutschke als ein Wortführer der Protestbewegung auf und war ein gesuchter Interviewpartner in den Medien.

Ganz anders verhielten sich die Boulevardmedien des Springer Verlags, zu denen z. B. die "Bild"-Zeitung und die "BZ" (eine Berliner Tageszeitung) gehörten. Die Springer-Gruppe hatte 1967/1968 bundesweit einen Marktanteil in Höhe von 33% bei den Printmedien, die neben Radio und Fernsehen das wichtigste Medium darstellten. Vor allem die "Bild"-Zeitung gab vor, für das „gesunde Volksempfinden“ zu sprechen. Sie bezeichnete Rudi Dutschke als „Bürgerschreck“ oder „Kommunistenführer“ und baute ihn zu einer Hassfigur auf.

Die "Bild"-Zeitung stachelte den Konflikt zwischen der jungen und der älteren Generation bewusst an und warnte vor einer Machtübernahme der neuen Linken unter ihrem Anführer Rudi Dutschke.

Die Studierenden wehrten sich und forderten unter dem Motto „Enteignet Springer!“ eine Entflechtung des Medienmarktes, weil nur so die Meinungs- und Pressefreiheit auch in Zukunft garantiert sei. Die Spannungen zwischen den Springer Medien und den Protestierenden nahmen zu. Als dann Rudi Dutschke das Attentat eines vermutlich Rechtsgesinnten nur knapp überlebte, kam es zu großen Demonstrationen und teilweise gewaltsamen Aktionen gegen Einrichtungen der Springer-Gruppe.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?  
Demonstrierende versammeln sich vor dem Verlagshaus des Springer Verlags.
Zum Anfang
Die politisch motivierten Proteste, die konkrete Missstände (Vietnamkrieg, Notstandsgesetze) anprangerten, wurden von einer antiautoritären Grundhaltung getragen, die sich letztlich gegen alles wandte: die bürgerliche Gesellschaft galt als spießig, Autoritäten wurden in Frage gestellt. Angesichts der prüden Einstellung zur Sexualität wurde eine sexuelle Befreiung gelebt. Mehr Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung wurden gefordert.

Innerhalb der Protestbewegung gab es Versuche, völlig neue Lebensformen auszuprobieren, um so eine bessere Gesellschaft zu erreichen. Die Kommune I in Berlin wurde Anfang 1967 von vier Männern und vier Frauen gegründet. Sie stellte die Ehe als Lebensform in Frage, weil ihrer Meinung nach aus den Abhängigkeiten von Mann und Frau in der Ehe der Faschismus entstünde. In der Kommune sollten alle alles miteinander teilen; es sollte keinen Privatbesitz mehr geben, auch keine festen Zweierbeziehungen. Die Kommunarden wollten liebende Menschen werden und mit Liebe die Welt verändern. Sie ähnelten dabei den Anhängern der Hippie-Bewegung in den USA, die unter dem Motto „Make love not war“ u a. gegen den Vietnamkrieg protestierten.

Die Mitglieder der Kommune machten immer wieder mit provozierenden Aktionen im Rahmen von Protestveranstaltungen auf sich aufmerksam. Der SDS schloss die Mitglieder der Kommune aus, weil immer mehr nur das Interesse der Medien auf sich ziehen wollten. Das Experiment endete im November 1969, als sich die Kommune offiziell auflöste.

Die Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern, ein antiautoritärer Umgang miteinander – das waren Forderungen in der Protestbewegung. Die Realität sah jedoch anders aus, denn den Frauen blieb meistens die Arbeit, während die Männer diskutierten. Erst 1968 bildeten sich Frauen- und Weiberräte in Berlin, Frankfurt und anderen Universitätsstädten, die sich für die Befreiung der Frauen einsetzten. Und es wurden die ersten Kinderläden gegründet, in denen Kinder antiautoritär erzogen wurden.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?   
Zwei Studierende, davon einer mit einem Peace-Symbol auf dem Mantelrücken, stehen Polizisten bei einer Demonstration gegen den Vietnam-Krieg gegenüber.
Zum Anfang

Wer nahm an der Bewegung teil? Mit welchen Mitteln wollten sie Veränderungen erreichen?

Die Spiegel-Affäre hatte 1962 erstmals zu einer großen Mobilisierung der Öffentlichkeit geführt. Bei spontanen Demonstrationen setzten sich Studierende, aber auch Professor*innen, bekannte Schriftsteller*innen und Gewerkschafter*innen für die Pressefreiheit ein.

Vor allem der Auschwitz-Prozess, der von 1963 bis 1965 dauerte, lenkte das öffentliche Interesse auf die Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Auseinandersetzung mit dieser unmittelbaren Vergangenheit war für viele Menschen das Triebfeld, sich zu engagieren, und sich z. B. bei Demonstrationen für das demokratische Gemeinwesen einzusetzen. Bei den Ostermärschen gegen Atomwaffen in Europa oder bei den Aktionen gegen die Notstandsgesetze fanden zeitweilig sehr unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in der Außerparlamentarischen Opposition (APO) zusammen. Allerdings wollte die Mehrheit der Gesellschaft das dunkle Kapitel des Nationalsozialismus lieber abschließen und es nicht weiter thematisieren.

Zum Anfang
Wenn heute von der 1968er-Bewegung die Rede ist, sind damit die Proteste gemeint, die 1965 begannen und vorrangig von Studierenden getragen wurden; diese forderten zunächst nur demokratische Reformen an den Hochschulen.

Auch als sich die Proteste ausweiteten und sich die Protestierenden für eine andere Gesellschaft aussprachen, gegen den Vietnamkrieg oder gegen die Springer-Presse demonstrierten, stellten Studierende und Jugendliche (Schüler/Schülerinnen, Auszubildende) bei den Protesten mit Abstand die größte Gruppe; das war z. B. in Frankreich anders, wo die Proteste gegen die Regierung auch von Industriearbeiter*innen mitgetragen wurden.

Erst bei den Protesten gegen die Notstandsgesetze zogen im Rahmen der APO Studierende, Professor*innen, Gewerkschaften und sogar Kirchenvertreter*innen in der Bundesrepublik an einem Strang. Auch die Ostermärsche mobilisierten ein breites Spektrum von Beteiligten, die gegen Atomwaffen in Ost und West in Europa demonstrierten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Mehrere hundert Christen, darunter kirchliche Würdenträger im Gewand, demonstrierten 1968 in Bonn gegen die Notstandsgesetze.
Zum Anfang
Der SDS als treibende Kraft der studentischen Protestbewegung hatte kein eigenes Programm, denn er verstand sich nicht als Partei, sondern als Bewegung. „Aktion, nicht Organisation!“ schrieb sie sich auf die Fahnen. Bewusstsein sollte durch konkretes Handeln geschaffen, Aufklärung durch Aktion vermittelt werden. Eine Forderung lautete: „Widerstand in Protest überführen“.

Die Bewegung setzte auf ganz neue Protestformen : ziviler Ungehorsam und symbolische Gewaltaktionen in Form von Sitzblockaden, Besetzung von Unis und Teach-ins (Aufklärungsveranstaltung zu einem polarisierenden Thema), Sit-ins (Sitzstreik) oder Happenings (improvisiertes Ereignis im Zusammenspiel mit dem Publikum). In West-Berlin organisierten Studierende zu Beginn des Wintersemesters 1967 eine „Kritische Universität“, in der sie die von ihnen geforderte Studienreform selbst in die Hand nehmen wollten.

Die Protestbewegung veranstaltete auch Debatten und nutzte kulturelle Ausdrucksformen wie Theater, Musik oder sonstige Events für ihre Belange.

Innerhalb kurzer Zeit radikalisierte sich die Protestbewegung. Wurden 1967 noch Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung gefordert, waren 1968 Forderungen nach einer gänzlich neuen Politik und einem ganz anderen Leben zu hören. Die Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Protestierenden wurden zunehmend heftiger und es kam zu militanten Aktionen vonseiten der Protestierenden, z. B. bei den Anti-Springer-Protesten nach dem Attentat auf Rudi Dutschke.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Eine Gruppe trifft sich, um Vorbereitungen für den "Vietnam-Kongress" zu beschließen.
Zum Anfang
Ein großes Problem war, dass es innerhalb der Protestbewegung keine klare Ablehnung von Gewalt gab. Man unterschied zwischen Gewalt gegen Sachen, die akzeptiert wurde, und Gewalt gegen Personen, die abgelehnt wurde. Auch akzeptierte man „beschränkte Regelverletzungen“. Der SDS vertrat diese Positionen, die sich aber in der Realität nicht umsetzen ließen.

Auch Rudi Dutschke hielt gezielte, illegale Provokationen im Rahmen der Proteste für gerechtfertigt, verurteilte aber Gewalt gegen Menschen. Andererseits betrachtete er die gewaltsamen revolutionären Bewegungen in der Dritten Welt als legitim.

Die zunehmende Radikalisierung und Gewalttätigkeiten bei den Protesten wurden von einem Großteil der Protestierenden abgelehnt. Letztlich zerbrach die Protestbewegung auch an der ambivalenten Einstellung zur Gewalt.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
Wasserwerfer werden gegen Demonstrierende angewandet. 
Zum Anfang
Noch vor den großen Demonstrationen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke zündete eine kleine Gruppe von Anhängern der Protestbewegung am 2. April 1968 in zwei Frankfurter Kaufhäusern drei Brandsätze. Der Zeitpunkt war so gewählt, dass niemand zu Schaden kam. Zwei der Attentäter waren Gudrun Ensslin und Andreas Baader, die wenig später zu den Gründern der Rote Armee Fraktion (RAF) zählten. Die RAF erklärte dem Staat den Krieg und überzog in den 1970er-Jahren das Land mit einer Serie von Attentaten.

Der Weg von Ensslin und Baader stellt eine Ausnahme dar. Etliche Mitglieder des SDS wanderten in diverse K-Gruppen ab, wie z. B. die Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML) oder den Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW). Andere gründeten die DKP, die sich an der Politik der realsozialistischen Staaten DDR oder Sowjetunion orientierte und von der DDR unterstützt wurde.

Wieder andere begannen den „Marsch durch die Institutionen“ und traten in die SPD ein, um auf diese Weise politische Veränderungen zu erreichen. Andere engagierten sich später bei den Grünen.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Urteilsverkündung im Kaufhaus-Brandstifterprozess vor dem Landgericht in Frankfurt am Main. Auf der Anklagebank der Strafkammer v.l.n.r. Thorwald Proll, Horst Söhnlein, Andreas Baader und Gudrun Ensslin (Foto, 31.10.1968).
Zum Anfang
Einige Forderungen der Protestbewegung fanden in Teilen der Bevölkerung Zustimmung in der Bundesrepublik, dazu zählten der Kampf gegen die Notstandsgesetze und die Proteste gegen den Vietnamkrieg. Auch die Forderungen nach Reformen an den Hochschulen und in der Gesellschaft fanden Zuspruch in linken und liberalen Kreisen.

Dem stand ein großer Teil der Bevölkerung gegenüber, der keinerlei Verständnis für die Protestierenden hatte. Diese Menschen waren stolz auf ihre Leistungen beim Wiederaufbau und erfreuten sich an ihrem wachsenden Wohlstand. Sie sahen keinen Anlass für Veränderungen und waren mit der Politik der Bundesregierungen unter Führung der CDU zufrieden. Geradezu entsetzt reagierten sie, als sich die Proteste und die Forderungen der Protestierenden radikalisierten. Marxistische Positionen hatten für die breite Bevölkerung immer den Beigeschmack der realsozialistischen Staaten, wie etwa der DDR oder der Sowjetunion. Diese Gesellschaftsmodelle wurden von ihnen vehement abgelehnt.

Auch linke und liberale Medien, die bestimmten Forderungen der Protestbewegung offen gegenüberstanden, wandten sich angesichts der Radikalisierung von ihr ab.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Internationale Vietnamkongress und die anschließende Demonstration durch Studierende der Technischen Universität Berlin.
Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen
Interview mit der Ehefrau von Rudi Dutschke

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang

Welche Folgen hatten die Proteste?

20 Jahre nach den Protestbewegungen konstatierte der Philosoph Jürgen Habermas im Jahr 1988, dass eine „Fundamentalliberalisierung“ der Bundesrepublik eine Folge der 68er-Bewegung sei. Mittlerweile ordnet man die Veränderungen in Staat, Politik, Gesellschaft und Kultur in einen größeren Zusammenhang ein, der sich etwa vom Beginn der 1960er-Jahre bis zu den Reformen der Sozialliberalen Regierung 1973/1974 erstreckt. Auch wenn die Proteste der 1968er keine direkten Erfolge erzielten, so trugen sie zu den Veränderungsprozessen hin zu einer Modernisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft bei.
Zum Anfang
Nach der Eskalation der Gewalt im November 1968 zerfiel die Protestbewegung. Die Proteste hatten keine direkten Erfolge erzielt: Die Notstandsgesetze waren am 30. Mai 1968 von der Großen Koalition verabschiedet worden; der Krieg in Vietnam, gegen den es weltweit Protest gegeben hatte, ging noch Jahre weiter; und der naive Glaube, die Bevölkerung der Bundesrepublik sei für eine revolutionäre Umgestaltung zu gewinnen, erwies sich als Trugschluss. Letztlich blieben auch innerhalb der Protestbewegung die linksrevolutionären Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft unklar.

Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) löste sich im März 1970 auf. Es bildeten sich kommunistisch orientierte Splittergruppen und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die auf der politischen Bühne ein Schattendasein führten.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen?
„Nieder mit Imperialismus und Reaktion, Es lebe die proletarische Weltrevolution“ steht auf einem roten Spruchband, das Demonstranten an der Spitze eines Protestzuges führen.
Zum Anfang
Die Protestbewegung wurde zwar nur von einer kleinen Minderheit der Gesellschaft getragen, dennoch trug sie indirekt zu politischen Veränderungen bei.

Die neuen Protestformen etablierten sich und wurden bei politischen Auseinandersetzungen weiterhin eingesetzt.

Nach einer anfänglich totalen Blockade vonseiten der Professor*innen setzte ein Prozess der Demokratisierung an den Hochschulen ein. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt verfolgte ab 1969 unter dem Motto „Mehr Demokratie wagen!“ eine Politik der gesellschaftlichen Reformen. Bürger und Bürgerinnen nahmen Partizipation ernst und gründeten z. B. Bürgerinitiativen.

Proteste gegen Großprojekte wie etwa gegen ein geplantes Kernkraftwerk in Whyl in den 1970er-Jahren waren bis dahin undenkbar. Die Proteste führten zum Erfolg: das Kraftwerk wurde nicht gebaut. Aktivisten aus der Anti-Atomkraft- und Umweltbewegung, der Friedensbewegung und Anhänger der neuen Linken gründeten 1980 die Partei „Die Grünen“, die sich dauerhaft im Parteiengefüge etablierte.

Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Mehrere hundert Polizisten räumten am 20. Februar 1975 das Gelände des geplanten Kernkraftwerks in Whyl. Badische und elsässische Umweltschützern hatten das Baugelände besetzt und leisteten gewaltlos Widerstand.
Zum Anfang
Schon bald nach dem Ende der Protestbewegung setzte die Diskussion um die Bewertung der 1968er ein. Bis heute hält diese Auseinandersetzung an. Die Argumente der Verfechter*innen und Gegner*innen der 1968er konzentrieren sich auf folgende Bereiche:

Argumente der Verfechter*innen der 1968er
  • Mittel- und langfristig wurden in den 1960er-Jahren Modernisierungsprozesse in Gang gesetzt, die auch auf die Protestbewegung zurückgeführt werden können.
  • Die Mentalitätsstrukturen änderten sich: der obrigkeitsstaatlich orientierte Bürgerinnen und Bürger entwickelte sich zu einem selbstbestimmten Individuum.
  • Frauen organisierten sich und setzten sich für mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft ein; dies führte langfristig zu einer veränderten Rollendefinition von Männern und Frauen in Beziehungen und auch zur Akzeptanz alternativer Paarbeziehungen ohne Trauschein.
  • Die Einstellung zur Sexualität wandelte sich, sexuelle Verhaltensnormen lockerten sich.
  • Langfristig wurden andere Lebensformen (Homosexuelle, Trans und Queere) aus der Illegalität geholt und in der Gesellschaft nach und nach akzeptiert.
  • Eine Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit setzte ein.

Argumente der Gegner der 1968er
  • Die 68er hatten unklare Vorstellungen von einer zukünftigen Gesellschaft, schafften es aber dennoch, ihre marxistisch geprägten Ideen salonfähig zu machen.
  • Bisherige Autoritäten wie Elternhaus, Kirche oder Schule wurden in Frage gestellt und damit funktionierende soziale Bindungen zerstört – zugunsten einer Selbstverwirklichung des Individuums. Die damals propagierte antiautoritäre Erziehung führte nach Ansicht ihrer Kritiker zu einer Missachtung von Ordnung, Rücksichtnahme und Gemeinschaftsgefühl.
  • Mit ihrer unentschiedenen Haltung zur Gewalt akzeptierten Teile der 68er Straßenkämpfe, bei denen zahlreiche Menschen verletzt wurden.
  • Die teilweise mit Intoleranz geführten Debatten, z. B. an Hochschulen, vergifteten das politische Klima.
Was ist auf dem Hintergrundbild zu sehen? 
Frauen und Männer demonstrierten in Bonn.
Zum Anfang
Schließen
Ich bin damit einverstanden, dass mir YouTube Videos gezeigt werden. Mehr Informationen

Um externe Dienste auszuschalten, hier Einstellungen ändern.

Zum Anfang
Scrollen, um weiterzulesen Wischen, um weiterzulesen
Wischen, um Text einzublenden